Von Martin Malek
Die Ukraine ist das flächenmäßig größte rein europäische Land, dessen westlicher Teil, nämlich Galizien und Bukowina, sogar bis 1918 zur Österreichisch-Ungarischen Monarchie gehörte. Dennoch herrscht in breiten Kreisen in Politik, Medien und Öffentlichkeit Mittel- und Westeuropas, darunter Österreichs, ein Defizit von Informationen, das man fast jeden Tag in Stellungnahmen von PolitikerInnen, ManagerInnen, Kunst- und Kulturschaffenden, JournalistInnen und LesebriefschreiberInnen sowie „Russland-ExpertInnen“, deren fachliche Kompetenz umgekehrt proportional zu ihrer Medienpräsenz steht, besichtigen kann. Eine spezifische, noch aufzuarbeitende Rolle spielt hier die Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen ORF, insbesondere des für die Ukraine zuständigen Korrespondenten, dessen „politische Wurzeln“ in der prorussischen FPÖ sowie in rechtsradikalen Blättern liegen. Viele gleichzeitig meinungsstarke und kenntnisschwache Personen haben zur Ukraine überhaupt nur eine einzige Assoziation: Korruption. Das allein ist bereits ein großer Erfolg der Kreml-Propaganda, zumal dabei regelmäßig „unter den Tisch fällt“, dass Russland erheblich korrupter ist (ganz zu schweigen von anderen negativen Eigenschaften wie Aggressivität nach außen und nach innen), ohne deswegen unablässig im „Kreuzfeuer“ von Kritik zu stehen.
Anzuzeigendes Buch lässt sich als Versuch lesen, hier gegenzusteuern. Es ist mit Unterstützung u.a. der beiden Wiener Universitätsprofessoren Wolfgang Mueller (Osteuropäische Geschichte) und Michael Moser (Slawistik) sowie Emil Brix, Direktor der Diplomatischen Akademie in Wien, entstanden.
Es gliedert sich in folgende Kapitel: Der große militärische Überfall Russlands auf die Ukraine ab 24. Februar 2022; der Widerstand der Ukraine; die unmittelbare Vorgeschichte, d.h. die Zeit 2014-2022; die Entstehung der Ukraine und Russlands; Militärbündnisse nach dem Zweiten Weltkrieg (ein etwas überraschendes Kapitel); der Umgang mit dem Krieg gegen die Ukraine in Russland (Militarisierung sogar der Jugend); Opfer und Zerstörungen des Krieges Russlands gegen die Ukraine (Kriegsvertriebene, materielle Schäden, Schaden für die Wirtschaft, Natur, Kultur); russische Kriegsverbrechen in der Ukraine; das Leben unter russischer Besatzung in den Gebieten Cherson, Saporischschja, Donezk, Luhansk und auf der Krim); der Umgang mit dem Krieg in der Ukraine (mit einem Unterabschnitt über „Humor während des Krieges“); der Umgang mit dem Krieg in ausgewählten Ländern und Regionen (Sanktionen gegen Russland, Unterstützung für die Ukraine, Umgang mit russischer Kultur); wirtschaftliche Auswirkungen des Krieges (Abhängigkeiten von russischem Erdgas, Getreide, Teuerung und Wirtschaftswachstum); weltpolitische Folgen des Krieges für EU, NATO und andere Konflikte in der Welt; mögliche weitere Entwicklungen des Krieges (zwangsläufig spekulativ): die Option Friedensgespräche; russische Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen; Perspektiven für die Zeit nach dem Krieg. Wie gut kann und wird sich die Ukraine wehren können? Das hänge stark von der Unterstützung aus dem Ausland ab, „vor allem von der Lieferung von Waffen“ (S. 94). Das scheint eine Binsenweisheit zu sein, wurde aber auch nach dem Februar 2022 noch lange nicht von allen Entscheidungsträgern in G-7, EU und NATO verinnerlicht.
Gleich zu Beginn des Textes wird auf die Relevanz von Begrifflichkeiten verwiesen – also etwas, was im Diskurs in Politik, Öffentlichkeit und Medien selbstverständlich sein sollte, es aber sichtlich nicht ist. So sind sehr „populäre“ Bezeichnungen wie „Ukraine-Krieg“ oder „Ukraine-Krise“ für den laufenden Vernichtungskrieg zu verwerfen, weil der Aggressorstaat Russland erst gar nicht vorkommt (S. 9). Die Autorin erläutert in der Folge verschiedene für die Geschichte der Ukraine bedeutende Begriffe, Ereignisse, Institutionen; das Budapester Memorandum von 1994, Propaganda, Euromaidan, die russische Annexion der Krim 2014, die im gleichen Jahr von Russland in der Ostukraine geschaffenen „Scheinrepubliken“ „Donezker Volksrepublik“ und „Lugansker Volksrepublik“; die russische Sprache in der Ukraine; die Rolle der orthodoxen Kirchen (das Moskauer Patriarchat unterstützt den russischen Krieg gegen die Ukraine), die Krim, die Verluste der Ukraine während des Zweiten Weltkrieges (als das Land, damals Sowjetrepublik, zur Gänze von der deutschen Wehrmacht besetzt war), Pazifismus, Marshallplan. Wichtig ist eine Erinnerung an einen am 3. April 2022 von der russischen staatlichen Agentur RIA Novosti publizierten Text eines gewissen Timofej Sergejzew („Was Russland mit der Ukraine tun sollte“), der genozidale Phantasien verbreitet (S. 15). Letzterer fand dennoch (oder genau deswegen?) im Westen kaum Beachtung, ganz zu schweigen von klarer Verurteilung oder Empörung auf Basis der Universalität der Menschenrechte.
Die auch und gerade in Österreich insbesondere seit 2014 immer wieder erhobene Forderung nach einer „Neutralisierung“ der Ukraine berücksichtigt nicht einmal, dass das Land 2014 und 2022 ja neutral war, ohne dass es das vor der Aggression Russlands geschützt hätte (S. 40f). Und die Frage, warum der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion so stark ist, beantwortet die Autorin wie folgt: [Russlands Diktator Wladimir] „Putin hat der Ukraine ihr Existenzrecht mehrmals abgesprochen und mit der großflächigen Invasion bestätigt, dass er die Ukraine als unabhängigen Staat vernichten will.“ (S. 21). Das ist zentral. Und wird doch von vielen heute nicht verstanden. Schlimmer noch: Es wird wider jede Evidenz geleugnet.
Die Autorin bleibt sachlich; Hassgefühlen gegen Russland (oder Putin) wird hier kein Raum gegeben, wiewohl sich solche angesichts der Lage der Ukraine seit 2014, v.a. aber seit 2022 subjektiv wohl nachvollziehen ließen. Am ehesten diskutierbar ist die Kapitelabfolge des Buches und bei der Bewertung der Demokratisierungsmöglichkeiten Russlands ist die Autorin vermutlich überoptimistisch (S. 99).
Bei diesem Buch handelt es sich um eine Aufbereitung der Thematik für Interessierte, das sich auch für Schulen eignet, und es möchte eine Argumentationshilfe für jene sein, die mit der wachsenden Gruppe von „PutinversteherInnen“ zu tun haben. Eine offene Frage ist, ob diese für Argumente „erreichbar“ sind.
Oksana Stavrou: Russlands Krieg gegen die Ukraine: Worum geht es? Fakten und Perspektiven. Wien: Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft 2023, 103 Seiten. https://www.oksana-stavrou.com/
Dr. Martin Malek: Geboren 1965. 1991 Promotion in Politikwissenschaft, Universität Wien. Ab 1998 (ziviler) wissenschaftlicher Mitarbeiter der Landesverteidigungsakademie (Wien), zunächst am Institut für Friedenssicherung und Konfliktmanagement, ab 2010 am Institut für Strategie und Sicherheitspolitik. Arbeitet u.a. am Monitoring von ethnischen Konflikten in der früheren Sowjetunion, der Analyse von Sicherheits- und Militärpolitik der früheren Sowjetrepubliken, den Beziehungen zwischen früheren Sowjetrepubliken einerseits und EU bzw. NATO andererseits, failed-states-Theorien sowie Energiepolitik und Sprachpolitik in Eurasien. Gastforscheraufenthalte in Russland, der Ukraine, Deutschland und den USA. Lehrtätigkeit u.a. an der Landesverteidigungsakademie und der Universität Wien. Verfasser von ca. 300 in einem Dutzend Ländern erschienenen Publikationen. Letzte Buchveröffentlichung: „Der Zerfall der Sowjetunion“. Baden-Baden 2013 (Co-Herausgeber, mit Anna Schor-Tschudnowskaja).
Anm. d. Red. Zwischenwelt international:
Auf diesen Band werden weitere folgen, die Verlauf und Folgen des russischen verbrecherischen Angriffskrieges gegen die Ukraine und den hybriden Krieg gegen Europa beschreiben werden, allerdings nicht im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft.
Zu den Gründen schrieb die österreichisch-ukrainische Autorin auf ihrer Facebookseite am 4. November 2024: Verlagsvertrag unterzeichnet!
Die neue überarbeitete Ausgabe meines Buches über Russlands Krieg gegen die Ukraine erscheint im Frühling 2025 im deutschen Springer Verlag auf Deutsch, kurz danach die adaptierte englische Version.
Die erste Ausgabe des Buches, gefördert durch die Stadt Wien, erschien heuer im Verlag der Theodor Kramer Gesellschaft mit großartiger Unterstützung des TKG-Sekretärs und -Gründers Konstantin Kaiser und der TKG-Mitarbeiterin Sonja Pleßl. Die beiden haben ein feines Gespür für wegweisende Themen und den Mut, sie anzusprechen.
Deswegen waren auch weitere Ausgaben meines Buches in der TKG geplant. Damit ist nun Schluss.
Denn: rückwärtsgewandt in stillen Gewässern manövrieren geht nur, wenn man sich jeder treibenden Kraft entledigt. Der TKG-Vorstand mit dem Vorsitzenden Peter Roessler und dem „neuen“ Sekretär Alexander Emanuely hat sich von Konstantin Kaiser und Sonja Pleßl einfach „getrennt“.
Zuvor hat er sich von mir distanziert und Menschen unterstützt, die mich und mein Buch angegriffen haben. Es geht um den Aktionsradius Wien, der unter der Masche der Friedensbewegung (und saftig gefördert durch die öffentliche Hand) den Verschwörungserzählungen und der russischen Kriegspropaganda mit einschlägigen Gästen wie Putin-Freund Willy Wimmer und Russia Today Deutschland Chefredakteur Florian Warweg eine Bühne bietet. Nachdem ein Besucher einer solchen „Friedensveranstaltung“ mit Werner Wintersteiner und Wilfried Graf im Aktionsradius mir das TKG-Buch über den russisch-ukrainischen Krieg aus den Händen gerissen hatte, versuchte mich der Aktionsradius mit einer Klagsdrohung zum Schweigen zu bringen. Und fand die Unterstützung des Vorstandes der Theodor Kramer Gesellschaft unter dem Vorsitz von Peter Roessler, der mir „ungerechtfertigte Anschuldigungen“ unterstellte, ohne mit mir je gesprochen zu haben. Vielleicht ist es besser so, dass der TKG-Vorstand auf diese uncharmante und irrationale Weise sein wahres Gesicht gezeigt hat. Gleichzeitig schade, dass ein etablierter Verein, die Theodor Kramer Gesellschaft, wegen Handlungen einiger weniger Personen die Gefahr läuft, auf der falschen Seite der Geschichte zu landen. Für mich macht die Zusammenarbeit mit der TKG unter diesem Vorstand und ohne Konstantin Kaiser sowie ohne Sonja Pleßl jedenfalls keinen Sinn.
Wir machen weiter. Der Springer Verlag hat zwei weitere Projekte angeboten, es gibt viel zu tun.
Anm. d. Red. Zwischenwelt international:
Der Springer Wissenschaftsverlag gehört zu den weltweit führenden.