Anmerkungen zu Nina Chruschtschowas Salzburger Festrede
Von Konstantin Kaiser
Beitrag von Konstantin Kaiser zu „Hinter der russischen Seele“. Informationsveranstaltung zum dritten Jahrestag der russischen Großinvasion in die Ukraine. „Hinter der russischen Seele“ wird von Unlimited Democracy – Verein zur Förderung der Demokratisierung mit Unterstützung der Paneuropabewegung Österreichs und Space for Ukraine veranstaltet, Stephansplatz, Wien, 22.2.2025, 15:30-18:30 Uhr, im Anschluss Gedenkkerzenzeremonie für die Opfer bis 19:30 Uhr.
Nina Chruschtschowa, Urenkelin von Nikita Chruschtschow, Professorin für Internationale Beziehungen an der New School in New York, geboren 1964 in Moskau, hielt die Festrede zur Eröffnung der Salzburger Festspiele am 26. Juli 2024. Aus ihr wird in der Folge zitiert nach Süddeutscher Zeitung (München) vom 27./28.7.2024.
Chruschtschowas Auffassung von Kunst und Kultur erinnert an den roten Plüsch, mit dem die Sitze in den Theatern des 19. Jahrhunderts überzogen wurden, an vergoldete Stukkaturen und Zierleisten… An Aufführungen des Bolschoi-Theaters vor einem handverlesenen Publikum aus die neue Bourgeoisie spielenden, dem Regime genehmen Sowjetbürgern. Diese hohe Kunst ist vor allem reproduktiv und beweist sich in der Virtuosität der Wiederaufnahme großer Werke des Repertoirs. Der hohe Wert von Kunst und Kultur werde, meinte Chruschtschowa, gerade im Kriegszustand offenbar, in welchem Nationen ihre kulturelle Individualität ebenso wertschätzen wie ihr Territorium, ihre Bodenschätze und ihre Finanzinstitute. Kunst werde zum „Schlachtfeld“.
Nach dieser Kniebeuge vor der im Salzburger Kunsttempel verehrten Kunst geht Chruschtschowa sogleich zur Attacke auf die demokratische Ukraine über. Seit vergangenem Jahr (2023) gebe es in der Ukraine ein „Anti-Puschkin-Gesetz“, „das die Vernichtung von Kulturgütern mit Bezug zur russischen und sowjetischen Geschichte in der Ukraine ermögliche. Zahlreiche als Symbole zaristischer und totalitärer Ideologie angesehene Kunstwerke, u.a. Gemälde, Skulpturen und Bücher russischer Künstler wurden verboten oder zerstört.“
Es bedarf eines festen Willens zur Unwahrheit, um an dieser Stelle nicht zu erwähnen, in welchem Ausmaß und dabei durchaus planmäßig von den russischen Angreifern ukrainische Kultur, Museen, Bibliotheken, Bildungseinrichtungen, Theater, Schulen, Universitäten, sakrale und weltliche Architektur zerstört werden, in der genozidalen Absicht, die Ukraine als Nation auszulöschen. In dem angeblichen „Anti-Puschkin-Gesetz“ ging es um Denkmäler, Straßenbenennungen, Lehrpläne der Schulen. Zum Beispiel gab es in der Ukraine allein 400 Puschkin-Straßen. Eine übermäßige Verehrung Puschkins samt seiner tiefen Verachtung für die „Kleinrussen“ war in der um ihr Fortbestehen kämpfenden Ukraine nicht mehr angebracht.
Die Einfuhr von Produkten von KünstlerInnen oder AutorInnen, die BürgerInnen des Aggressor-Staates sind oder waren, wurde eingeschränkt. Dazu muss angemerkt werden, dass noch im Frühjahr 2022 mehr als achtzig Prozent der im ukrainischen Buchhandel erhältlichen Bücher der Sprache nach russisch waren und dies sehr wohl als Folge der jahrhundertelangen Einschränkung, Abwertung und Unterdrückung des Ukrainischen durch die zaristischen und später auch sowjetischen Machthaber zu begreifen ist.
Daran anschließend sprach Chruschtschowa weiter von einem zu vermeidenden pauschalen Vernichten von kulturellen Zeugnissen einer anderen Nation oder ethnischen Gruppe, vergaß aber dabei den kleinen Unterschied zu erwähnen, dass die Ukraine solche pauschale Vernichtung, wenn überhaupt, nicht auf dem Gebiet der russischen Föderation betreibt, sondern Russland sie auf dem Gebiet der Ukraine betreibt. Großzügig jedoch und sich eines Urteils enthaltend, gesteht Chruschtschowa den UkrainerInnen zu, selbst darüber zu entscheiden, „wie sie ihre Vergangenheit zu bewältigen oder ihre Zukunft zu gestalten haben“.
Dass sich gegen diese angesichts des russischen Kriegsziels einer „Entnazifiziierung“ und „Entukrainisierung“ der Ukraine zynische Äußerung in Österreich kein Proteststurm erhoben hat, ja nicht einmal der Ansatz eines Protestes merkbar wurde, tut weh. Einzig in der Neuen Zürcher Zeitung erschien eine vernichtende Kritik an Chruschtschowas Rede.
Danach leitete Chruschtschowa zu ihrem eigentlichen Thema, der Großen Russischen Kultur, über. Nur durch die „großen bedeutenden Schöpfungen des Geistes“, meinte sie, „ist es den Menschen gelungen, eine verlässliche Brücke zwischen den Nationen zu schlagen“, und erinnerte an Dostojewskijs Brief an Zar Alexander III. von 1873 mit dem Geschwätz von „Großen Nationen, die „unverschämt unabhängig geblieben sind“ und ihren „einzigartigen Beitrag dadurch leisten“. Daher wurde, kann man sich die Bemerkung nicht verkneifen, die Leibeigenschaft in Russland gerade in dem Moment eingeführt, in dem andere nicht ganz so „große Nationen“ sie abschafften.
Chruschtschowa unterstellte hiemit eine grundlegende Verschiedenheit von Menschen verschiedener Nationen, die eine Verständigung zwischen ihnen nur in einer abgehobenen, höheren Sphäre, in der die Verhältnisse transzendentierenden Kunst möglich ist.
„Durch russische Kunst“, schwärmte Chruschtschowa, könne man sich über Ziele und Motive eines Putin informieren.
Chruschtschowa zitierte gleich wieder Dostojewskij: „Mitleid ist das einzige Daseinsgesetz der Menschen.“ Tolstoj ist hierin meines Erachtens vorzuziehen. Ihm ging es letztlich nicht um „Mitleid“, sondern um „Menschenliebe.“
Die russische Kultur jedoch, so Chruschtschowa, sei „Leidenskultur“: „Leid und Schmerz sind in Russland allgegenwärtig und existenziell“, was günstig dafür sei, „Meisterwerke zu schaffen“. „Die beste Kunst erwächst aus Leid …“ Umso fragwürdiger ist für Chruschtschowa daher die Ablehnung des von Russen Geschaffenen.
Nach dieser grotesken Beschönigung des Russinnen von ihren Machthabern von einst und jetzt auferlegten Leids geleitete die Festrednerin das Publikum noch einmal mit tönenden Phrasen in den Kunsttempel: „Die Kunst ist das, was von uns bleibt, wenn wir nicht mehr da sind.“ Und: „Es ist die Kunst, die uns in ihrer Transzendenz den Weg weist.“
Chruschtschowa beschwört im Grunde immerzu die große russische Kunst und Kultur, ohne auch nur andeutungsweise die Frage aufzuwerfen, ob diese große Kunst und Kultur jenseits ihrer das Leid kompensierenden Vorzüge nicht auch etwas zum gegenwärtigen Verhalten von Russinnen und Russen unter Putin beigetragen habe. So etwa durch ihre von der Philosophin Oksana Sabuschko herausgearbeitete Apologie der Schuldlosigkeit und des Duldens, oder aber einfach in der Funktion, die sie auch in Chruschtschowas Rede erfüllt: Durch ihre heroische Größe als dem Leid Abgetrotzte die unergründliche Eigenart des Russischen zu feiern und die Fortexistenz des Imperiums, Des „Heiligen Russland“ zu rechtfertigen.
Kunst an sich ist für Chruchtschowa immer im „Kampf für eine bessere Gesellschaft, eine bessere Menschheit und mehr Schönheit“.
Diese Phrase wollte es wirklich allen Anwesenden für den Schlussapplaus Recht machen!
Anmerkung
Mit keinem Wort erwähnte Chruschtschowa die Vereinnahmung der großen Kunst einst und jetzt durch den russischen Staat, das Sowjet- und das Putin-Regime.
Man vergleiche dazu den instruktiven Aufsatz der Musikwissenschaftlerin Antonina Klokowa: Umwertung und Vereinnahmung. Russland: Kunstmusik im Dienste des Staates. In: Osteuropa (Berlin), 74. Jg. Heft 5/2024, 167-185.
Aufgezeigt wird die Manpulation großer Kunst insbesondere anhand von Schostakowitschs 13. Symphonie „Babiyar“, wo im ersten Satz Jewgeni Jewtuschenkos episches Gedicht aus dem Jahre 1961 vertont ist: „Über Babiyar gibt es kein Denkmal.“
Unter anderem wollte man bei der Uraufführung die jüdische Bevölkerung nicht als eigene Opfergruppe angesprochen sehen. Also musste Jewtuschenko sein Gedicht umschreiben. (Vgl. op.cit. S. 172)
Das Originalgedicht erschien übrigens bereits 1963 in einer Übersetzung von Walter Fischer (Bruder von Ernst Fischer) im Wiener Schönbrunn-Verlag. Dort lautet die erste Strophe:
Kein Denkmal gibt es hier in Babij Jar.
Den schroffen Erdbruch nur als rohe Grabschrift.
Mir graut.
Ich zähle heute soviel Jahr
wie sie das jüdische Volk bisher durchschritten.
Es kommt mir heute vor –
Ich bin ein Jude.
Im September 2023 wurde eine Aufführung der Symphonie unter Theodor Kurentsis in Moskau als Gelegenheit genützt, den Holocaust mit der Ukraine in Verbindung zu bringen. Die russische Musikerin Olga Rusanova meinte da zum Beispiel, man habe in der Sowjetunion das Thema Holocaust früher aus „Völkerfreundschaft“ mit den dadurch belasteten Ukrainern vermieden (S. 171)!
Die Musikwissenschafterin Klokowa weist auch auf den hartnäckigen staatlichen Antisemitismus in der Sowjetunion hin, von dessen Existenz Außenminister Lawrow mit seinen Äußerungen über das „jüdische Blut“ Adolf Hitlers am 1.Mai 2022 beredtes Zeugnis ablegte.
Vergleiche zu Aspekten des Themas Schuldlosigkeit auch Konstantin Kaisers Glosse „Die Rede von den Unschuldigen“