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Lyssenko und Putin

von Konstantin Kaiser

Lyssenko, Vernalisation. Abgesehen von der intriganten Brutalität, mit der Lyssenko in Verein mit Stalin seinen Schwindel durchzusetzen verstand und damit am Hungertod von Millionen Menschen mitschuldig wurde, ist sein „Erfolg“ ein Zeugnis der irrationalistischen Tendenz des Sowjetmarxismus, auf einem Voluntarismus und Dezisionismus, der mit Erfolg angewandte brutale Gewalt mit Macht verwechselte und eine glaubhaft gemachte Lüge mit Wahrheit. Man glaubte außerhalb des betonierten Pfades des offiziellen Marxismus gern an Wunder, an Weissagungen und Magie. Lyssenko ist ein Beispiel dafür, wie man seinem eigenen Schwi­ndel nicht mehr entkommen kann: Ihn aufzudecken hätte ihn den Kopf gekostet. Da lieferte er lieber andere, die ihm auf die Schliche gekommen waren, ans Messer.

Dieser Irrationalismus nicht nur Lyssenkos war dadurch begünstigt, dass schon der Lenin­sche Marxismus eine zweckrationalistische Schrumpfform des Marxismus war, karg in der Darstellung historischer und kultureller Gegebenheiten, dabei dennoch mit Universalitätsanspruch auftretend, sich wie ein Knüppel­damm durch einen Sumpf ziehend, ständig die Mahnung wispernd, nicht etwa links oder rechts in den Sumpf, ins Verderben, in den Verrat an die Bourgeoisie zu stürzen, aber jegliche Verantwortung für den Zustand des Sumpfs von sich weisend. Die ideale Voraussetzung für die Bildung eines sich abkapselnden in zynischem Realismus rationalen Teilsystems inmitten eines realen Sump­fes von Gewalttätigkeit, Naturzerstörung, Verrottung, Fehlplanung, Rassis­mus, Missbrauch, Korruption, Alkoholismus. Und dieser Sumpf war nicht das, was die Bourgeoisie hinterlassen hatte, sondern das, was der Bolschewismus zu seinem eigenen geistigen Komfort erschaffen hatte.  Er war und ist die authentische Eigen­produktion des Sowjetsystems, das sich in dieser seiner Fäulnis auch noch selbst rechtfertigte. Insofern ist der ordnungsliebende Wladimir Putin die Ausgeburt des Systems, das sich durch die Übel, die es hervorbringt, erhält und rechtfertigt.

Die Vererbung von durch die Umstände erworbenen Eigenschaften, entsprach auch ganz dem Menschenbild der Bolschewiken. Eine einer Person auferlegte Eigenschaft konnte von ihnen ohne irgendeine Vermittlung zwi­schen dem Innen und Außen als fixe Eigenschaft der Person angesehen werden. Die Vermittlung zwischen dem Innen und dem Außen, zwischen dem Zellkern und dem Plasma sozusagen, fehlte dem armen Wintergetreide, das nach geheimnisvoller Kur als Frühlingsgetreide sprießen und somit im selben Jahr eine zweite Ernte ermöglichen sollte. Lysenko untermauerte seine „Theorie“ durch Fälschung der Ergebnisse. Er war ein Vorreiter des Lügensy­stems.

Verwunderlich, dass Marcuse in seinem Buch über die Sowjetideologie darauf nicht eingeht, war doch Ideologisches kaum je verhängnisvoll folgen­reicher als in diesem Fall.

Vor Jahrzehnten verteidigte eine maoistische Philosophie-Zeitschrift („Wi­derspruch“ hieß sie) noch Lyssenko gegen den Revisionismus. Das war noch in der Zeit, in der man Stalin als 70% richtig, 30% fehlerhaft ‚kritisierte‘.

Da die Sache ganz eng mit der ukrainischen Geschichte zu tun hat: Genauer studieren und darauf zurückkommen! Vernalisation: Die Arbeitslager als „Erziehungslager“. Die ungewohnten Umstände „lockern“ den Charakter, machen ihn durchdringlich wie die Gene einer Pflanze in der „Pfropfung“? Soziopathie als erwünschtes Resultat?

Published inZwischenwelt im Exil