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Imperialismus, Chauvinismus und Kolonialismus im russischen kulturellen Narrativ

Von Halyna Petrosaniak

Seit Beginn der gross angelegten Invasion Russlands in die Ukraine im Februar 2022 lehnen die meisten ukrainischen Kulturschaffenden und Künstlerinnen gemeinsame Diskussionsplattformen mit russischen KünstlerInnen und Intellektuellen ab – selbst mit jenen, die sich als Oppositionelle zum Putin-Regime verstehen. West- und mitteleuropäische Kulturinstitutionen sowie viele BürgerInnen westlicher Länder haben dafür oft kein Verständnis. Ihrer Meinung nach sollten ukrainische Intellektuelle mit russischen Anti-Putin-AkteurInnen, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine ablehnen, aktiv kooperieren und öffentliche Diskussionen auf westeuropäischen Plattformen führen.

Was ist daran problematisch? Vieles. Eine gemeinsame Präsenz auf einer Bühne suggeriert eine falsche Gleichheit. Die Situation der russischen antiputinistischen Intellektuellen ist jedoch in keiner Hinsicht mit jener von ukrainischen Intellektuellen vergleichbar. Es sind nicht die russischen RegimegegnerInnen, die am 24. Februar 2022 in einem brutal angegriffenen Land im eigenen Haus unter Raketenbeschuss aufgewacht sind. Russische Intellektuelle haben aber während Jahrzehnten das putinistische Regime in ihrem Land geduldet oder konnten es nicht verhindern. Gleichzeitig genossen sie in den westlichen Ländern grosse Aufmerksamkeit. Während in den westlichen Medien die wichtigsten Botschaften über die Ukraine nicht von den Anstrengungen des Landes handelten, sich aus der russischen postkolonialen und imperialistischen Abhängigkeit zu befreien, sondern von der Korruption im Land. Von russischer Korruption und ihrer internationalen Verflechtung dagegen hörte man deutlich weniger.

Nach Butscha, Irpin, Borodjanka und Isjum können ukrainische Intellektuelle kein gemeinsames Podium mit RussInnen, auch nicht mit oppositionellen, teilen. Umso mehr, als nur sehr wenige Putin-KritikerInnen bereit sind anzuerkennen, dass ihr Land auch nach dem Zerfall der Sowjetunion ein Imperium geblieben ist. Jakutien, Burjatien, Baschkortostan, Dagestan, Tschetschenien, Tatarstan, Udmurtien und viele andere als «autonom» bezeichnete Republiken und Regionen der heutigen Russischen Föderation haben ihre je eigene Sprache und Kultur, die unterdrückt und durch das Russische verdrängt oder bedroht werden. Heute werden Angehörige russländischer Minderheiten überproportional zahlreich im Krieg eingesetzt, während die BewohnerInnen des europäischen Teils des Landes den Krieg kaum spüren. Ohne die Befreiung dieser Völker wird Russland weiterhin eine Bedrohung für Europa bleiben.

Langjährige Erfahrungen der ukrainischen Kommunikation mit russischen Oppositionellen zeigen, dass die russische Perspektive nur in seltenen Fällen völlig frei von Chauvinismus, Imperialismus und Kolonialismus ist. Ein Phänomen, das seit vielen Generationen andauert. Russische Intellektuelle und KünstlerInnen, die aufgrund verschiedener Verdienste grosse Anerkennung in der west- und mitteleuropäischen Welt erhielten, waren in den meisten Fällen nicht frei vom imperialen kognitiven Erbe. Dies wird durch einen in der Ukraine gut bekannten Aphorismus verdeutlicht: «Der russische Liberale endet dort, wo die ukrainische Frage beginnt.»

Drei prominente Vertreter der russischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts sind Beispiele dafür, wie tief imperialistische und chauvinistische Ideologie das russische Gedankengut durchdrungen hat. Beginnen wir mit Fjodor Dostojewski (1821 – 1881), der als einer der grössten Schriftsteller der Weltliteratur gilt und bis heute sowohl von putinistischen als auch von oppositionellen russischen Intellektuellen als eine führende Figur der russischen Kultur angesehen wird. Dostojewski war von einer besonderen Mission Russlands gegenüber allen slawischen Völkern und auch der ganzen Welt überzeugt. In einem Brief an seinen Freund Maikow im Februar 1868 schreibt Dostojewski aus Genf: «Der ganzen Welt steht eine Erneuerung durch die russische Idee bevor, … das ist mein heiliger Glaube. Aber damit sich dieses Werk vollende, ist es nötig, dem grossrussischen Volk politisches Recht sowie Vorrang gegenüber der gesamten slawischen Welt zu gewähren, und zwar endgültig und unwiderruflich.»1

Auch ein Jahr vor seinem Tod verzichtete Dostojewski nicht auf seine messianischen Vorstellungen. In der Rede zur Eröffnung des Puschkin-Denkmals 18802 vertritt er, dass Russland eine besondere historische Mission habe, die andere Völker vereinen solle. Russland wird von Dostojewski als Zentrum einer grösseren geistigen Gemeinschaft präsentiert. Die Brüderlichkeitsrhetorik des Schriftstellers stellt Russland als älteren Bruder vieler Völker dar. In Dostojewskis Briefen finden sich auch zahlreiche Belege für Rassismus, Antisemitismus sowie eine herablassende Haltung gegenüber westeuropäischen Ländern, in denen der Schriftsteller viel Zeit verbrachte. Nichtsdestotrotz dient der Dostojewski-Mythos auch heute dem positiven Image Russlands und hilft, die koloniale und imperialistische Haltung des putinistischen Russlands – oft aber auch der russischen Opposition – zu vertuschen und zu verharmlosen.

1917 zerfiel das Russische Reich, und in der neu gegründeten Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken wurde marxistischer Internationalismus proklamiert. Es wurde entschieden, in den Sowjetrepubliken die nationalen Sprachen und Kulturen zu fördern, um lokale Anhänger für die Kommunistische Partei zu gewinnen und nach aussen attraktiv zu wirken. In der Realität jedoch setzte sich mit der Machtübernahme Stalins eine imperialistische Perspektive durch. So hielt einer der bekanntesten Vertreter der sozialistischen Literatur und Mitbegründer des Sozialistischen Realismus, Maxim Gorki (1868 – 1936), dessen Name bis heute ein renommiertes Theater in Berlin trägt, es 1928 für unnötig, dass sein Werk Die Mutter ins Ukrainische übersetzt werde. Er begründete dies damit, dass das Ukrainische als Sprache nicht existiere, es sei bloss ein Dialekt3 – dies obwohl Gorki, der mehrmals die Ukraine besuchte und viele ukrainische Bekannte hatte, genau wusste, dass es so nicht stimmte.

Die rasante Ukrainisierung in der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik ging dem russischen Chauvinisten Gorki zu weit. In den frühen 1930er-Jahren betrieb Gorki zudem aktive Propaganda für die offizielle Politik der bolschewistischen Partei. Sowjetische Straflager bezeichnete er als «ein beispielloses, fantastisch gelungenes Experiment zur Umerziehung gesellschaftlich gefährlicher Menschen»4.

Selbst jene russischen Persönlichkeiten, Künstlerinnen und politischen Aktivisten, die erheblich unter dem sowjetischen Regime gelitten hatten, in Lagern inhaftiert waren und eine Erneuerung ihres Landes anstrebten, waren nicht frei vom grossrussischen Imperialismus und Chauvinismus.

Ein prominentes Beispiel ist Alexander Solschenizyn (1918 – 2008), der jahrelang in stalinistischen Lagern inhaftiert war und den Roman Archipel Gulag schrieb, für den er 1970 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde. In seiner berühmten Harvard-Rede 1978 kritisierte Solschenizyn scharf die westliche Demokratie, und 2007 nahm er die Staatsauszeichnung von Putin entgegen – einem ehemaligen KGB-Mitarbeiter, der exemplarisch für das Regime steht, das Solschenizyn zunächst jahrzehntelang seiner Freiheit beraubte und ihn schliesslich ins Exil trieb.

Ganz im Sinne der imperialistischen Ideologie konnte der Gegner des Sowjetsystems Solschenizyn sich Russland nach dem Zerfall der Sowjetunion nicht ohne die Ukraine vorstellen. Schon 1990 schrieb er in dem Artikel «Wie wir Russland ausrüsten sollen», dass er selbst fast halb Ukrainer sei und in jungen Jahren mit der ukrainischen Sprache aufgewachsen sei. Doch die ukrainische Geschichte leugnete er hartnäckig: «Das ist alles eine kürzlich erfundene Fälschung, dass seit fast dem 9. Jahrhundert eine besondere ukrainische Nation mit einer besonderen nicht-russischen Sprache existiert.»

Die Tatsache, dass in der frühmittelalterlichen Kyjiwer Rus‘ Altkirchenslawisch (Altbulgarisch) als Schriftsprache und als Umgangssprachen unterschiedliche regionale Idiome verwendet wurden, interessierte Solschenizyn nicht sonderlich. Ebenso wenig beachtete er, dass es ab dem 14. Jahrhundert bis zur Herrschaft Peter des Grossen kein «Russland» gab und seine westlichen Gebiete unter dem Namen Moskowien bekannt waren. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts begann Moskowien mit den Annexionen der eigentlichen Rus‘ und riss sich später auch den Namen Rus‘ an sich.

2006 erklärte Solschenizyn in einem Interview mit der Moskowskie nowosti (Moskauer Nachrichten, Nr. 15/2006), dass der Westen offen die «Farbrevolutionen» unterstütze und versuche, die nordatlantischen Interessen in Zentralasien durchzusetzen. Nach seiner Meinung liess all dies keinen Zweifel daran, dass «eine vollständige Einkreisung Russlands vorbereitet wird, gefolgt von einem Verlust seiner Souveränität». Er fuhr fort: «Die riesigen Gebiete, die nie zur historischen Ukraine gehörten, wie Novorossien, die Krim und die gesamte Südostregion, sind gewaltsam in den Bestand des heutigen ukrainischen Staates und seiner Politik des gierig gewünschten NATO-Beitritts eingegliedert worden (…) Unter all diesen Bedingungen darf Russland in keiner Form gleichgültig gegenüber der mehrmillionenstarken russischen Bevölkerung in der Ukraine sein, sich von unserer Einheit mit ihnen distanzieren.»

Es klingt, als sage es Putin selbst. Doch hier meldet sich ein Mann zu Wort, der in Westeuropa als Symbol des russischen geistigen Widerstands gegen die sowjetische Diktatur gilt.

Solschenizyn erlebte die Annexion der Krim nicht mehr. Doch seine Ehefrau Natalja Solschenizyna sagte 20. März 2018 in einem Interview der Zeitschrift Le Figaro: «Trotz des umstrittenen Ansatzes aus Sicht des Völkerrechts gehört diese Region Russland. Die Rückkehr der Krim ist historische Gerechtigkeit.» Die imperialistische Annexion der Krim 1783 durch Katharina II. hat jedoch nichts mit historischer Gerechtigkeit zu tun.

Was Solschenizyn hier über «Novorossien, die Krim und die gesamte Südostregion» sagte, entspricht schlicht nicht der Wahrheit. Es handelt sich um Gebiete, die das russische Imperium im 18. Jahrhundert annektierte – vorher gab es dort keine autochthone russische Bevölkerung. An der Stelle der heutigen Stadt Odesa existierte laut historischen Ermittlungen eine Festung Hadzhibej, in der es kosakische und tatarische Gruppen gab. Vor der russischen Kolonisierung war das Gebiet überwiegend von ukrainischen Kosaken bewohnt, die hier ihre Winterlager und Siedlungen hatten. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann das russische Kaiserreich, diese Ländereien aktiv mit EinwanderInnen zu besiedeln und gewährte ihnen Vergünstigungen und Rechte. Und was «die mehrmillionenstarke russische Bevölkerung in der Ukraine» betrifft, liegen konkrete Zahlen vor: Laut der Volkszählung 2001 haben sich bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 52 Millionen EinwohnerInnen 17,3 Prozent als ethnische Russinnen und Russen bezeichnet, als Ukrainerinnen und Ukrainer hingegen 77,8 Prozent. Die russische Sprache wurde nie verboten. Die Amtssprache in der Ukraine war und bleibt Ukrainisch.

Das alles sollte jedoch keine grosse Rolle spielen. Das Einzige, was gelten sollte, ist das aktuelle Völkerrecht. Es proklamiert, dass die Grenzen zwischen Staaten völkerrechtlich verbindlich sind und durch Gewalt nicht verändert werden dürfen.

Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta («Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt») ist nach wie vor aktuell.

Seit 1991 existiert die unabhängige Ukraine in den Grenzen, die sie von der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik übernommen hat. Am 5. Dezember 1994 wurde in Budapest von der Ukraine, der Russischen Föderation, den Vereinigten Staaten und dem Vereinigten Königreich ein Memorandum unterzeichnet, dem zufolge die Ukraine die auf ihrem Territorium verbliebenen Atomwaffen aus Sowjetzeiten abgab. Im Gegenzug verpflichteten sich die genannten Staaten zur Achtung der Unabhängigkeit, Souveränität und bestehenden Grenzen der Ukraine sowie zum Verzicht auf die Androhung oder Anwendung von Gewalt gegen die territoriale Integrität oder politische Unabhängigkeit der Ukraine. Sollte das Land Opfer eines Angriffs mit Atomwaffen werden oder eine solche Drohung erfahren, müsste der UN-Sicherheitsrat Hilfe leisten.

In diesem Punkt gibt es nicht viel zu diskutieren. Die Idee, dass die «russische Kultur» Mitverantwortung für die desaströse Entwicklung des russischen politischen und gesellschaftlichen Diskurses trägt und dass eine Dekolonisierung der zentralen russischen kulturellen Narrative notwendig ist, ist dagegen hochaktuell. Es wäre höchste Zeit, dass die Welt systematisch von den Kulturen der Völker erfährt, die in der heutigen Föderation von Russland unterdrückt, zensiert oder gar ausgelöscht werden. Diese Idee findet jedoch auch im oppositionellen russischen Diskurs kaum Unterstützung. Ohne eine tiefgründige und ehrliche Aufarbeitung dieser Problematik sind systemische Veränderungen in der russischen Gesellschaft unmöglich.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der vom Schweizer Friedensrat herausgegebgebenen „Friedenszeitung“ (Zürich) Nr. 54 September 2025.

Halyna Petrosanyak, geboren 1969 in den ukrainischen Karpaten, studierte russische und deutsche Philologie an der Hochschule Iwano-Frankiwsk. Auf Ukrainisch hat sie fünf Lyrikbände herausgegeben sowie 2024 den Roman Matrygan (deutsch «Die Tollkirsche»). Sie wurde mit mehreren Preisen und Stipendien ausgezeichnet. Seit 2016 lebt sie als Autorin und Übersetzerin in der Schweiz. Auf Deutsch erschien 2022 der Band Exophonien in der Reihe essais agités im Verlag Der gesunde Menschenversand.

Anmerkungen

1 Fjodor M. Dostojewski in einem Brief an Apollon N. Majkow, Genf, Februar 1868. Vgl. https://dostojewski.eu/der-panslawist-dostojewski.html

2 Fjodor M. Dostojewski: Rede über Puschkin am 8. Juni 1880 vor der Versammlung des Vereins «Freunde Russischer Dichtung». Mit einem Essay von Volker Braun. Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1992.

3 In einem Brief vom 7.5.1926 schreibt Maxim Gorki an einen den Schriftsteller Oleksa Slisarenko: «Sehr geehrter Alexei Andrejewitsch, ich bin entschieden gegen die Kürzung der Erzählung Die Mutter. Mir scheint auch, dass eine Übersetzung dieser Erzählung in den ukrainischen Dialekt nicht notwendig ist. Es überrascht mich sehr, dass Menschen, die sich dasselbe Ziel setzen, nicht nur die Unterschiede der Dialekte betonen – ja, bestrebt sind, einen Dialekt zur ‹Sprache› zu machen –, sondern zudem auch jene Grossrussen unterdrücken, die sich in einem Gebiet dieses Dialekts in der Minderheit befinden. Unter dem alten Regime habe ich – so gut ich konnte – gegen solche Erscheinungen protestiert. Mir scheint, unter dem neuen Regime sollte man vielmehr danach streben, alles zu beseitigen, was die Menschen daran hindert, einander zu helfen. Andernfalls kommt es zu einer merkwürdigen Situation: Die einen bemühen sich, eine ‹Weltsprache› zu schaffen, die anderen handeln genau entgegengesetzt.» (Maxim Gorki: Briefe in 24 Bänden. Band 16, S. 63)

4 Maxim Gorki: Gesammelte Werke. Literarische Werke in 25 Bänden. Band 20, S. 235.

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