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Laudatio für Giora Bernstein

Gehalten bei der Verleihung des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst am 4. September 2025 im Künstlerhaus, Wien

Von Leander Kaiser

Eine Ehrung, die für die besondere Verbundenheit Österreichs mit Israel zeugt, was gerade in diesen Tagen wichtig scheint!

Giora Bernstein
Giora Bernstein

Beim Nachdenken über das große und vielfältige Lebenswerk von Giora Bernstein ist mir eine bekannte Zeile aus einem Gedicht von Rainer Maria Rilke in den Sinn gekommen. Da heißt es: Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen. Rilke spricht nicht von einem Baum. Doch ein lebendiger, kraftvoller Baum, der immer neue Wachstumsringe um sich gebildet hat, scheint mir Giora Bernstein zu sein. Das möchte ich an seinem musikalischen Werdegang, seiner Auseinandersetzung mit der Musik der Moderne des 20. Jahrhunderts und an der Kultur des musikalischen Festivals, die er entwickelt hat, darstellen. Ich werde hier nicht die verschiedenen Preise und Auszeichnungen, die er für seine Arbeit erhalten hat, aufzählen, auch nicht, welche Orchester er dirigiert hat, mit welchen berühmten Musikern er zusammengearbeitet hat.

Den Anfang seines musikalischen Werdegangs macht die Geige, die er mit acht Jahren zu spielen begann, nach der Flucht mit seiner Familie aus dem von Nazideutschland okkupierten Wien, die auf teils abenteuerliche Weise über die Tschechoslowakei, Ungarn und Rumänien nach Tel Aviv führte. Die Geige, sagte mir Giora, war für ihn die Schule des Hörens, und, füge ich hinzu, seine lebenslange musikalische Begleiterin. Nach dem Studium von Geige und Klavier in Tel Aviv bei Leo Kestenberg und an der Juilliard School in New York, ein Studium, das er sich durch die Arbeit als Kellner finanzierte, kam er durch ein großes Stipendium als Assistent an die Brandeis University in der Nähe von Boston. Er wird Mitglied des Boston Symphony Orchestra.

Nun jedoch tut sich ein neuer Horizont auf, ein neuer Wachstumsring. Es genügt ihm nicht, ein für sein Geigenspiel preisgekrönter musikalischer Spezialist zu sein, er wollte, wie er mir gesagt hat, den Überblick: das Wissen um die Geschichte und das Verständnis der wandelnden Formsprache der Musik von ihren überlieferten Anfängen an bis zur Gegenwart. Er graduiert sich an der Boston University zum Doktor der Musical Arts und erlangt einen Master Degree in Komposition an der Brandeis University. Er schlägt den Weg zum Dirigenten ein.

Schon Anfang der Sechzigerjahre beginnt eine intensive Beschäftigung mit der Zweiten Wiener Schule, mit dem Werk Arnold Schönbergs im Zentrum. Er hört ein Quartett von Schönberg, ein Erlebnis, das er gesprächsweise mit „the real McCoy“ beschrieben hat. Es ist die Musik, auf die er gewartet hat. In der von ihm gegründeten Boston Chamber Music Society führt er erstmals in Boston Schönbergs String Trio op.45 auf. Gespielt wurde nach den Originalmanuskripten, denn Schönbergs Werke sind zum Teil noch nicht gedruckt. Die Kenntnis der Werke Schönbergs und die Anerkennung seiner Bedeutung waren noch nicht weit über die Kreise seiner Anhänger hinausgedrungen. Giora Bernsteins Begeisterung für Schönberg war nicht sektiererisch, die avantgardistische Attitude des Bruchs mit der gesamten musikalischen Tradition war ihm fremd,  Als Dirigent wurde Bernstein einer der wichtigsten Interpreten der zweiten Wiener Schule, aber auch ihrer großen Vorläufer wie Johannes Brahms und Gustav Mahler. In Kalifornien, nach seiner Berufung als Professor an das Pomona College, hat er an der Gründung des Schönberg-Archivs in Los Angeles mitgewirkt und später auch das Arnold Schönberg Center in Wien beraten.

Der Baum, der in wachsenden Ringen lebt, den ich metaphorisch mit Giora Bernstein verbunden habe, hat nicht nur immer neue Wachstumsringe von Fähigkeiten und Wissen um sich gelegt, er hat auch seine Äste weit um sich gebreitet als Lehrer der Musik und als Begründer, musikalischer Direktor und Organisator wichtiger Musikfestivals.

So leitete er von 1977 bis 2000 das Colorado Music Festival in Boulder. Dieses Festival wurde zur wichtigsten Stätte der Aufführung moderner und zeitgenössischer Musik zwischen der Ost- und der Westküste der Vereinigten Staaten. Zwei Dinge scheinen mir bemerkenswert. Erstens wurde in Rahmen des siebenwöchigen Festivals auch immer wieder die Verbindung mit der Musik des 19. Jahrhunderts hergestellt, die „traditionell“ zu nennen aus vielen Gründen falsch ist. Zweitens wurden Vorträge zu musikalischen und ästhetischen Themen geboten, Musikfilme gezeigt und wohl auch zusammen gefeiert. So entstand ein breiter Zugang für Menschen mit unterschiedlichen musikalischen Vorkenntnissen.

Als Dirigent leitete er viele Erstaufführungen von Werken Schönbergs, Alban Bergs und Anton Weberns, aber auch von Zeitgenossen wie Pierre Boulez. Er dirigierte mit kräftigen Armbewegungen, oft aus dem Gedächtnis. In Rezensionen wird auf seine Präzision, doch auch die Ekstase, die seine Dirigate erzeugen konnten, hingewiesen.

Giora hat mir erzählt, dass er in der ganzen Zeit von 1977 bis 2000 nie Urlaub gemacht hat. Giora Bernstein ist ein Mensch von rastloser Energie, einer Energie, die er auch heute noch in hohem Alter ausstrahlt und sich für die, die ihm nahestehen, mit der Wärme der Freundschaft verbindet.

Die USA waren nach dem Zweiten Weltkrieg ein musikalischer Möglichkeitsraum, der nicht zuletzt entstanden war durch die Flucht vieler vor allem jüdischer Komponisten, Musiker und Musikwissenschaftler vor dem Nationalsozialismus. Was die USA gewonnen haben, haben speziell Österreich und Deutschland verloren. Andrerseits hätte Giora Bernstein im Österreich der Nachkriegszeit so wie viele andere Emigranten kaum eine Möglichkeit zur Entfaltung seiner Talente und zur Anwendung seines musikalischen Wissens gefunden. Und doch hat Österreich, wenn man künstlerisches Genie überhaupt einem Land zuschreiben kann, durch die Rezeption der Wiener Moderne in den USA eigentlich unverdient eine ganz große Reputation gewonnen. Anfang des Jahrtausends ist Giora Bernstein in die Städte seiner Kindheit und Jugend, Wien und Tel Aviv, zurückgekehrt – möge nun die Verleihung des Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst auch eine Heimkehr in der Anerkennung seiner großen Verdienste um die österreichische Kunst sein.

Leander Kaiser

Laudatio For Giora Bernstein

English Version by Cynthia Peck-Kubaczek

When reflecting on the breadth and richness of Giora Bernstein’s life’s work, a line from Rainer Maria Rilke came to my mind: “I live my life in widening rings.” Rilke was speaking of a tree, and it strikes me that Giora himself has been such a tree—vital and strong, each new ring marking fresh growth. His career in music, his deep engagement with the modernism of the twentieth century, and the music festivals he founded all bear witness to this. I will not list here the many prizes and honors he has received, the orchestras he has conducted, or the distinguished musicians with whom he has worked; such information can be found elsewhere.

Giora’s musical journey began with the violin, which he started playing at the age of eight, after his family fled Nazi-occupied Vienna. Their escape—an adventure in itself—took them through Czechoslovakia, Hungary, and Romania before they reached Tel Aviv. Giora once told me that the violin taught him how to listen; I would add that it remained his lifelong companion in music. He studied violin and piano in Tel Aviv and later at the Juilliard School in New York, supporting himself as a waiter. A major fellowship then brought him to Brandeis University near Boston as an assistant, and he became a member of the Boston Symphony Orchestra.

But a new horizon opened, another ring of growth. It was not enough for him to be a celebrated violinist. He wanted the larger view, as he once told me: to understand the history and the changing language of music from its earliest traditions to the present. He earned a Doctor of Musical Arts at Boston University and a Master’s degree in composition at Brandeis. And he set out on the path to becoming a conductor.

In the early 1960s, Giora turned to an intensive study of the Second Viennese School, focusing especially on the work of Arnold Schoenberg. On hearing one of Schoenberg’s quartets, he recognized, as he has put it, “the real McCoy”—it was the music he had been waiting for. He founded the Boston Chamber Music Society and gave Boston’s first performances of Schoenberg’s String Trio, Op. 45, and the Fantasie for violin and piano, Op. 47—using original manuscripts, since many of the composer’s works were still unpublished. At the time, knowledge of Schoenberg’s music and recognition of its importance were confined to a narrow circle of his devotees.

Giora’s passion for Schoenberg was never dogmatic; he was not drawn to the avant-garde pose of rejecting the classical tradition altogether. Nor did he belong to one of the camps that celebrated either Schoenberg or Stravinsky alone. In fact, as he often points out, Schoenberg made little use of the twelve-tone method in his late works, whereas Stravinsky took it up in his final years. As a conductor, Bernstein became a foremost interpreter of the Second Viennese School, as well as of its great forerunners Johannes Brahms and Gustav Mahler. He performed this repertoire widely in the United States and also as a guest conductor abroad. After his appointment as professor at Pomona College in Claremont, California, he took part in founding the Schoenberg Archive in Los Angeles. He later advised the Arnold Schönberg Center in Vienna.

Like the tree in Rilke’s poem that lives “in widening rings”—my metaphor for Giora Bernstein—not only did he grow ever new rings of knowledge and artistry, he also spread his branches wide as an educator and as the founder, musical director, and organizer of important festivals. As professor at Pomona College and at the University of Colorado in Boulder, he taught music history, composition, and chamber music; many of his students remain in touch today and still turn to him for advice.

From 1969 Giora directed the Claremont Music Festival, and from 1977 to 2000 the Colorado Music Festival in Boulder. The latter became a leading venue for performances of twentieth-century modernist and contemporary music between the East and West Coasts of the United States. Two aspects strike me as especially noteworthy. First, the annual seven-week Colorado festival regularly built bridges to music of the nineteenth century—music that, for many reasons, is wrongly labelled “traditional.” Second, the programs also included lectures on music and the arts, screenings of films about music, and, of course, occasions for celebration. In this way the festival created space for audiences with diverse musical backgrounds.

As a conductor, he gave many first performances in Claremont and Boulder of works by Schoenberg, Alban Berg, and Anton Webern, as well as by contemporaries such as Pierre Boulez. He conducted with powerful arm gestures, often from memory without the need for a score. Reviews speak of both his precision and the fervor his performances could inspire. University teaching, directing festivals, and conducting alike called forth all his powers. He once told me that he never took a vacation in the years from 1977 to 2000. Giora Bernstein is a man of tireless energy—an energy he continues to radiate, even well into his years. For those close to him, it is an energy inseparable from the warmth of his friendship.

After World War II, the United States became a haven for musical possibility, shaped in no small part by the flight from Nazism of many—above all Jewish—composers, musicians, and scholars. What America gained, Austria and Germany lost. And yet, even had he returned, Giora Bernstein—like so many other émigrés—would have found little opportunity in postwar Austria to develop his talents or apply his musical knowledge. Through the reception in the United States of Viennese modernism, Austria—if artistic genius can ever be ascribed to a nation—came to enjoy a reputation it had done little to earn.

At the beginning of the new century Giora Bernstein returned to the cities of his childhood and youth, Vienna and Tel Aviv. May the award of the Austrian Cross of Honour for Science and Art also be seen as a homecoming—an acknowledgment of his exceptional contributions to Austrian culture.

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