Juri Andruchowytsch über Wille und Freiheit, Nachbarn, Passion und Frieden
Interview von Sonja Pleßl
Juri Andruchowytsch, Essayist, Romanautor, Lyriker und Übersetzer aus Iwano-Frankiwsk, Ukraine, gehört zum “Stanislauer Phänomen”: Eine Stadt, Iwano-Frankiwsk, das ehemalige Stanislau, wird zum Synonym für den literarischen Aufbruch der unabhängigen Ukraine. Juri Andruchowytsch erhielt viele Auszeichnungen, darunter 2014 den Hannah-Arendt-Preis und 2022 den Heinrich-Heine-Preis. Zu seinen wichtigsten Werken zählen: “Der Preis unserer Freiheit. Essays” (2023) und die Romane “Radio Nacht” (2021) und “Moskowiada”. Moskowiada, der im ukrainischen Original 1993 erschienene Roman, sollte sich leider als Prophezeiung herausstellen. Auf Deutsch erschien “Moskoviada” erst 2006 in der Übersetzung von Sabine Stöhr im Suhrkamp Verlag. Juri Andruchowytsch, der sich auch mit dem jüdischen Erbe in Galizien beschäftigt hat, erkannte früh die gefährlichen Geschichtsumdrehungen aus dem Kreml, die die Opfer auf eine perverse Art verhöhnen und entmenschlichen.
Das Interview und Gespräch mit Juri Andruchowytsch wurde auf Vermittlung von Oksana Stavrou ermöglicht. Es fand am 14. Oktober 2024 im Café Raimund in Wien in Beisein der Juristin und Sachbuchautorin Stavrou statt, die mit dem ukrainischen Intellektuellen Juri Andruchowytsch seit ihrer Jugendzeit bekannt ist. Der Beitrag basiert zu großen Teilen auf dem Transkript von Sonja Pleßl sowie auf nachfolgende schriftliche Korrespondenz mit dem Autor.
Publikation in “Zwischenwelt international” zum Europatag 2025, dem 9. Mai, der einen Tag nach dem 8. Mai, dem Tag der bedingungslosen Kapitulation des “Tausendjährigen Reiches” gefeiert wird: Was bedeutet Friede? Worum kämpft die Ukraine? Unter welchen Umständen kann Russland ein friedlicher Nachbar werden? Vor welcher Aufgabe stehen die Demokratien?

Pleßl: Sie sind zu Ihrer Lesung aus “Radio Nacht” und “Der Preis unserer Freiheit” in Wien. Was ist Ihnen am wichtigsten, dass man in Österreich versteht? Was wünschen Sie sich von Österreich in dieser Situation, wo wir die Gefahr eines Totalitarismus in Europa haben?
Andruchowytsch: Ich will nicht besonders unhöflich oder drastisch sein, aber ich sage so, dass für mich Österreich ist, wie es ist. Ich kenne das. Ich erwarte nichts. Ich habe seit den 90er Jahren nie etwas Besseres erwartet. Was meine ich mit “etwas Besseres”?
Mehr Passion
Wir sind – die ganze europäische Welt – in einem historischen Moment, wo man mehr Passion braucht, mehr Leidenschaft, wenn ich mir so ein Wort erlauben darf. Und Österreich ist alles andere als das. Das kann ich verstehen, das ist ein Land, das sich auf der alltäglichen Ebene, auf der Ebene der Infrastrukturen sehr gut organisiert hat, alles funktioniert wie zackzack, praktisch perfekt. Und dieses Land will nichts riskieren. Meistens sind die Leute hier mit diesem Zustand absolut zufrieden, das bedeutet, sie haben alle Vorteile des zivilisierten Lebens, Bequemlichkeiten, kulturelles Erbe, das sehr reich ist, sie wollen nicht anders denken und verstehen. Das ist ein reiches neutrales Land. Neutral – ok, dann bekommen wir keine Waffen, keine Militärhilfe. Gut, wenn uns österreichische Medizin helfen kann, gut, wenn wir humanitäre Hilfe von Österreich bekommen. Österreich kann kein entscheidender Faktor in diesem Krieg sein, weil es ein sich so anpassendes Land ist, kein Game Changer.
Pleßl: In Österreich ist die russische Friedenspropaganda ziemlich stark und nimmt weiter zu.
Andruchowytsch: Nicht nur in Österreich. Ich sehe das überall. Das funktioniert sehr gut überall in westlichen Ländern, weil Frieden so ein Wort ist, das für die westliche Kultur ein Stichwort für alles Gute ist. Russland versteht das sehr gut und spielt mit dieser Art des Pazifismus, dieser Art des Dogmatismus. Ich würde sagen, dass das ein dogmatischer Pazifismus ist. Man sagt: Frieden über alles!
“Frieden!” bringt keinen Frieden
Aber “über alles!” darf man nicht sagen, man muss das Konkrete sehen, muss Details sehen, man muss die Ursachen sehen, und dann stellen sich schwierigere Fragen: Wer ist der Aggressor? Wer ist das Opfer? Wer hat angegriffen? Wer droht unablässig mit der Atombombe? Das alles ist komplex. Ich sehe nicht, dass Österreich spezifisch – doch, wahrscheinlich im Vergleich mit nordeuropäischen Ländern wie Skandinavien oder die baltischen Länder oder Großbritannien ist Österreich tiefer in diesen Friedensdogmatismus involviert.
Man kann millionenfach das Wort Frieden wiederholen, aber von diesem Wiederholen kommt nicht mehr Friede in die Welt.
Pleßl: Was bedeutet für Sie Friede? Was ist Friede für Sie?
Andruchowytsch: Für mich?
Pleßl: Ja.
Andruchowytsch: Eine andere Qualität der Nachbarschaft mit Russland. Russland ist der einzige Faktor, der für die Ukraine – aber ich bin überzeugt, nicht nur für die Ukraine – eine ständige Aggressionsgefahr bedeutet. Und Russland zu befrieden ist eine große Aufgabe des Westens.
Russland: neutral, demilitarisiert, denuklearisiert
Das bedeutet, dass Russland demilitarisiert wird, also erstens bekämpft, zweitens demilitarisiert, also abgerüstet, und in diesem Prozess denuklearisiert wird. Also, das muss ein neutrales Land sein, ohne Nuklearwaffen, mit einer ganz kleinen Armee. So, mehr oder weniger, sehe ich das. Und dann können wir ausatmen und sagen: Endlich kommt der Frieden in die Welt.
Pleßl: Russland soll Österreich werden?
Andruchowytsch: Ja, ein großes, großes Österreich [lacht]. Ein Österreich mit Sibirien [lacht]. Ein Österreich bis zum Pazifischen Ozean [lacht].
Pleßl: Ich komme aus dem Waldviertel, nahe der tschechischen Grenze, und wenn unsere Wiener Verwandten zu Besuch kamen, sagten sie immer, sie fahren nach Sibirien. Taras Schewtschenko habe ich erst, glaube ich, durch Sie kennengelernt. Den hätte ich eigentlich – wir sind eine Bauerngegend – in der Schule lernen müssen. Was hat Sie am meisten beeinflusst von seinen Gedichten? Wie erkären Sie sich, dass er durchgehalten hat? Für mich ist das unvorstellbar.
Andruchowytsch: Das Zweite kann man nur teilweise mythologisiert erklären. Wir können nicht die Leute des 19. Jahrhunderts sein, also wir können nicht wirklich verstehen, was die Motive damals für die menschliche Seele waren, aber wir dürfen wahrscheinlich an eine bestimmte Außergewöhnlichkeit glauben. Dass Taras Schewtschenko, als Sklave geboren, in Sklaventum die Hälfte seines Lebens, die ganze Zeit diesen Willen zur Freiheit in sich gepflegt hat. Schewtschenko, da geht es um Wille und Freiheit.
Taras Schewtschenko: “Volja”
Wir haben auf Ukrainisch für Freiheit zwei Wörter: Wir haben “svoboda” im politischen und philosophischen Sinne, und “volja”, das ist eher im persönlichen Sinn. Volja bedeutet auf Deutsch: Wille. Wir haben praktisch das gleiche Wort für Wille und Freiheit und deswegen sind die Ukrainer Voluntaristen. Man sagt, wir sind Anarchisten, das stimmt teilweise auch, aber vor allem sind wir Voluntaristen. Wir kämpfen gegen die Umstände, auch wenn sie absolut hoffnungslos sind. Wir kämpfen, weil wir so einen Willen haben. Das hat Schewtschenko verkörpert! Wer weiß, vielleicht hat er auch eine Art Modell für die weiteren Generationen in der Ukraine kreiert. Diese Hartnäckigkeit und den Willen, frei zu sein. Er hatte, nachdem er aus dem Sklaventum herausgekauft und freigelassen wurde, nur wenige Jahre freies Leben, dann wurde er verhaftet, politisch verfolgt, saß in der Kasematte in St. Petersburg, erlitt die Verhöre, die Verbannung in den Ural und nach Zentralasien. Das ist ein Leben voller Schmerzen, Erniedrigung, Unfreiheit. Trotzdem war der Mensch immer frei. Das ist phänomenal. Ich denke nicht, dass ich in meiner Kindheit oder als junger Mann das verstehen konnte. Ich fand seine Poesie nicht wirklich so interessant, aber seine Figur absolut inspirierend. Doch seine Biographie und sein Charakter, seine Zeilen und seine Texte sind untrennbar, man darf das nicht getrennt betrachten. Es ist ein Phänomen, dass Taras Schewtschenko 2014 [Euromaidan] so wichtig war und dass er auch in diesem Krieg die ganze Zeit als Ikone erscheint, in Uniform eines ukrainischen Soldaten. Die sehen auch so aus, die älteren Männer mit diesen Schnurrbärten. Die älteren Männer, die so Schewtschenko-ähnlich sind, die kämpfen die ganze Zeit. Schewtschenko ist eine Ikone in der Ukraine.
Pleßl: Ich habe die Hypothese, dass zwischen Antisemitismus und Verachtung der Ukraine eine enge Verbindung ist, auch über dieses ständige Feindbild Selenskyj, der jüdischer Herkunft ist. Die Verachtung der Ukraine ist am Rande des Rassismus, bei gleichzeitiger Ignoranz, wer Ukrainer überhaupt sind. Das ist vielleicht ein Grund, warum man Schewtschenko als Ikone der Ukraine nicht wahrnimmt und Selenskyj herausgreift. Ich sehe viel Antisemitismus bei uns und in Deutschland, Frankreich und so weiter und das Bündnis Iran-Russland-Hamas-Hisbollah, in dem Frauenhass und Kinderhass und Antisemitismus stecken. Die Ukraine war auch eine Wiege des Judentums. Das größte jüdische Zentrum weltweit ist heute das Menorah Center in Dnipro in der Ukraine.
Andruchowytsch: Ja! Diese Geschichte des Judentums in der Ukraine ist älter als das Wort Ukraine. Die jüdischen Gemeinden gab es bereits im mittelalterlichen Kyjiw. Ich höre das zum ersten Mal, dass Selenskyj ein Grund ist für die Antisemiten in Österreich.
Pleßl: Kein Grund, ein Vorwand! Es würde nichts helfen, Selenskyj auszutauschen. Das Schwein als Hasssymbol gegen die Ukraine, das sah ich zuerst auf der Seite, ich weiß nicht mehr, ob Facebook oder Twitter, des gefolterten ukrainischen Schriftstellers Stanislav Aseyev.
Moralisch stehen die Ukrainer für Israel
Andruchowytsch: Ich kann vermuten, dass Selenskyj sehr viele Leute irritieren kann. Er irritiert auch sehr viele Ukrainer, aber nicht, weil er ein Jude ist, sondern schon zu viele Jahre Präsident. Aber es geht nicht anders, das sind die Kriegsumstände: Wir können jetzt keine Wahlen haben.
Von Anfang an haben wir in der Ukraine gehofft, dass wegen Selenskyj, seinem Judentum, sich Israel positioniert. Aber Netanjahu, zumindest, blieb Putins Freund. […]
Beim Konflikt in Gaza meine ich: Wir müssen als Ukraine die einzig mögliche Positionierung in diesem Krieg haben: Es ist in der Tat ein Krieg zwischen Iran und Israel. Hinter dem “armen Palästina” steht der Iran. Iran ist der beste Freund Russlands, unseres Aggressors. Wir können nicht Hamas oder Hisbollah unterstützen. Die sind Freunde Putins. Moralisch stehen die Ukrainer für Israel. Leider ist das nicht gegenseitig, glaube ich. Israel hat uns, mehr oder weniger, wie Österreich geholfen, also mit medizinischer Hilfe.[1]
Pleßl: Ja, mit First Responder Ausbildung, psychologischen Programmen…
Andruchowytsch: Ja. Es gibt natürlich viele ehemalige ukrainische Staatsangehörige, die jetzt israelisch sind, die in der israelischen Armee gekämpft haben, Offiziere, die jeden Tag in unserem Fernsehen die Entwicklungen in Israel kommentieren. Es gibt ständige Kontakte. Aber so etwas wie eine amerikanisch-israelisch-ukrainische Achse gibt es nicht. Das ist alles sehr getrennt, leider. Die Gegner sind einig. Die Gegner, Iran und Russland, China und jetzt Nordkorea, die haben die beste Solidarität.
Juri Andruchowytsch unterzeichnete im Jänner 2025 den Aufruf ukrainischer Intellektueller: “Do not appease evil” https://neweasterneurope.eu/2025/01/10/do-not-appease-evil/
Darin heißt es:The strength of a democracy is the ability to learn from past mistakes. – Die Stärke einer Demokratie liegt in der Fähigkeit, aus Fehlern der Vergangenheit zu lernen.
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Juri Andruchowytsch: Der Preis unserer Freiheit. Essays 2014 – 2023.
Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. Berlin: Suhrkamp 2023.
Andruchowytsch im Essay “Der Preis der Werte oder Unsere Dissonanzen”, S. 28:
“Volja” ist zugleich ein Synonym für Freiheit – übrigens einer der Grundwerte sowohl Europas als auch Amerikas. Das, was Etienne Balibar mit dem schönen französischen Wort égaliberté bezeichnet – Freiheit in Gleichheit. Dafür haben sich die Ukrainer erhoben. Für diesen Wert sind wir bereit, unvergleichlich mehr zu bezahlen, als irgendein Amerika finanzieren könnte. Im Jänner und Februar dieses Jahres hat sich gezeigt, dass wir sogar bereit sind, mit unserem Leben zu bezahlen.
Die Ukrainer gehen auf den Maidan und ändern die Tagesordnung, sie schreiben sie neu, sie schreiben sie anders, und sie hebeln dabei jegliche spitzfindige Geopolitik aus.
[1] Anmerkung zu Israel: Israel lieferte inzwischen Waffen an die Ukraine, die es im Libanon von der Hisbollah konfisziert hatte, sowie Patriotmunition.