Zu diesem Titel lasen und diskutierten am 29. April 2025 die drei AutorInnen Ganna Gnedkova, Regina Hilber und Konstantin Kaiser.
Konstantin Kaiser, Ganna Gnedkova, Regina Hilber, Sonja Pleßl (copyright Ortner)Konstantin Kaiser und Ganna Gnedkova (copyright Ortner)
„Zerbrochen“, so der Dichter, Exilforscher, Aufklärer und Essayist Konstantin Kaiser, sei die Illusion, wir könnten jeden Tag aufs Neue in das Füllhorn der Zeit greifen. Zerbrochen wurde dieses Füllhorn von Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und seinem verdeckten Krieg gegen Europa. Wieviel Zeit bleibt uns? Nicht Zeit, um sich neue Hobbies in der Pension auszumalen, sondern Zeit für: Hilfe für den Widerstand der Ukraine, Aufbau von Resilienz in Österreich, Nachholen versäumter Aufarbeitung der Verbrechen totalitärer Regime, Schutz der Kinder Europas, Aufklärung?
Ganna Gnedkova, aus Kyjiw stammende Autorin, Sprachlehrerin und Übersetzerin, die in Wien das Medienzentrum der ukrainischen Community gegründet hat, sprach darüber, dass sie seit längerer Zeit ihre Schreib-Stimme verloren hat – aber sie gibt nicht auf. Sie leiht anderen Menschen durch ihre Übersetzungen ihre Stimme. So arbeitet sie zurzeit an der Übersetzung der Gedichte von Maksym Krywzow, einem jungen ukrainischen Dichter, der sich freiwillig zur Verteidigung der Ukraine gemeldet hatte. Am 7. Jänner 2024 ist er in Russlands Vernichtungskrieg getötet worden. In seiner Lyrik lebt Maksym Krywzow weiter.
Vor kurzem erschien „Ukraina. Meine Aurigena. Ausgewählte Gedichte“ der ukrainischen Dichterin Antonia Zvid in der Übersetzung von Ganna Gnedkova, Peter Marius Huemer und Jakob Bernstein.
Am 14. Mai 2025 wird der Band in der ukrainischen Botschaft in Wien präsentiert.
Ganna Gnedkova, die mit ihrem Gedicht „Muttersprache“ ihr Talent zur knappen, präzisen, eindringlichen Lyrik zeigte, las zum ersten Mal ihre Übersetzungen ins Ukrainische von Konstantin Kaisers Gedichten „Abschied“, „Empirie“ und „Fazit“, in denen der Dichter die Zeit, in der wir leben, in Worte fasst.
Ihre und Kaisers Lyrik verbindet Prägnanz mit knappen Worten. Die Gedichte mögen eine Brücke zwischen der Ukraine und Österreich verstärken, die hierzulande durch die russischen Kriegslügen, Ressentiments am linken und rechten Rand und weit verbreiteter Heuchelei täglich beschädigt wird.
Regina Hilber, Schriftstellerin, Reisende und Herausgeberin, las aus ihrem Czernowitz-Zyklus aus Super Songs Delight. Das Buch ist 2022 erschienen. Heute wird Czernowitz, die ukrainische Grenzstadt im „Buchenland“ Bukowina, von Russland attackiert und von prorussischen rumänischen Neofaschisten, die offen die Zerschlagung der Ukraine beförworten, als Teil eines neuen „Great“ Rumänien gefordert. Plötzlich wird aus einem Ort, dessen kulturelle und sprachliche Vielfalt den „Mythos“ Czernowitz ausmacht, eine vielfach gefährdete Stadt. Es zeigt sich darin einmal mehr die Verbindung von Lügen mit verbrecherischen Taten.
Regina Hilber ist eine reisende Autorin, die erst vor Kurzem aus Chile zurückgekehrt ist, wo sie Recherchen zu den indigenen Bewegungen in ihren vielfältigen Versuchen, den indigenen Widerstand zu koordinieren, betrieben hat.
Im Gespräch mit der Moderatorin und Publizistin Sonja Pleßl wurde die Verbindung zur indigenen Bevölkerung auf der Krym hergestellt: Am 25. April 2025 hatte Refat Tschubarow, Vertreter des Medschlis, der wichtigsten Organisation des krimtatarischen Volkes, vor der UN betont, dass nur der ukrainische Staat und die Krimtataren über das Schicksal der Krym entscheiden dürfen[1] und sich um Hilfe an alle indigenen Führungspersönlichkeiten gewandt. Im Interview mit Sasha Vakulina von Euronews am selben Tag entlarvt er die von Trump verbreiteten Lügen, es hätte keinen Widerstand gegen die russische Besatzung gegeben: Dies sei eine „große Respektlosigkeit gegenüber den ukrainischen Soldaten, die in den ersten Tagen der Besetzung getötet wurden“; viele Staaten haben die Krimtataren sogar ermahnt, sie sollen „Russland nicht provozieren“![2]
Der Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur bat um Spenden für die von den Russen am 25. April 2025 zerstörte Basis der freiwilligen medizinischen Organisation „Hospitalier“ in Pawlohrad. Ihre Begründerin Jana Zinkewitsch kündigte nicht aufzugeben an und bittet um Spenden für den Bau einer neuen Basis. Diesem Spendenaufruf schloss sich Ganna Gnedkova an. Bei den russischen Terrorangriffen auf Pawlohrad sind drei Menschen ermordet worden, darunter ein Kind. Rettungswägen, Technik, Medizin und das Archiv der Freiwilligen von „Hospitalier“ wurden zerstört.[3] Zinkewitsch betonte, wie wichtig gerade jetzt konkrete Hilfe und ermutigende Worte seien. Pawlohrad liegt ca. 75 Kilometer östlich von Dnipro, wo sich mit dem Menorah Center das weltweit größte jüdische Zentrum befindet. In der Ukraine leben nach verschiedenen Schätzungen zwischen 56000 und 400000 Jüdinnen und Juden, sie bilden die fünftgrößte jüdische Community der Welt.[4]
Wie geht es weiter in einer Zeit der „Zerbrochenen Illusionen“?
„Zerbrochene Illusionen“ soll Bestandsaufnahme und Grundlage für gemeinsames Handeln sein, auch mit Lyrik, in der ausgedehnten Gegenwart.
Wir danken allen Mitwirkenden sowie den KooperationspartnerInnen Grazer Autorinnen Autorenversammlung (GAV) und der Buchhandlung OrtnerBücher! „Abschied“, „Empirie“ und „Fazit“ finden Sie hier zum ersten Mal auf Deutsch und Ukrainisch in der Übersetzung von Ganna Gnedkova. Herzlichen Dank für die Übersetzung!
Wer nicht Schwarz-Weiß sah nach Kvar Aza Butscha Irpin Isjum und Kachowka und nicht glauben wollte an Folterkeller in Cherson und nicht an die Toten von Kramatorsk sah gar nichts mehr stolperte blind in die nächste verfügbare Falle
Прощання
Хто не бачив чорного і білого після Кфар-Ази Бучі Ірпеня Ізюма та Каховвки і не хотів вірити в підземні катівні Херсона і в мертвих Краматорська той не бачив уже нічого спотикаючись наосліп у кожну нову пастку
Empirie
Eines Tages drang Licht durch das vergessene Fenster Streit entstand ob es sich bloß um zuckenden Widerschein oder um echtes Licht handle
Es dauerte ehe man sich entschloss probeweise hinauszuschauen
Емпірія
Одного разу світло проникло через забуте вікно вони засперечалися про те, чи було це лише мерехтливе відображення а чи справжнє світло
Лише згодом вони вирішили спробувати визирнути назовні
Fazit
Was nie Gegenwart war ist nie geschehen. Je mehr Gegenwart du dir schaffst desto mehr kann dir geschehen. Vielleicht ist es besser, sich bloß auf einem schmalen Streifen Gegenwart zu bewegen und all die Gefahren wären entweder schon vergangen oder kämen erst auf uns zu. Einander finden können wir uns dann nicht mehr.
Висновок
Що ніколи не стало теперішнім, того не сталося взагалі. Що більше створиш собі теперішнього, то більше може з тобою статися. Можливо, й на краще рухатися лише вузькою смужкою теперішнього тоді б усі небезпеки або вже пройшли повз або тільки наближалися до нас. Тоді б ми вже не змогли знайти одне одного.
Aus: Konstantin Kaiser Ausgedehnte Gegenwart. Gedichte. Oberwart: Edition lex liszt 2025 Übersetzt von Ganna Gnedkova Переклала Ганна Гнедкова