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Eine Verlockung weiterzudenken: Karl-Markus Gauß‘ neues Buch

Von Konstantin Kaiser

Karl-Markus Gauß:
Schuldhafte Unwissenheit.
Essays wider Zeitgeist und Judenhass.
Wien: Czernin Verlag 2025. 125 S.

Es geht in diesem Buch im Grunde um moralische Fragen, die Fragen der Verantwortung, des Unterscheidens von Gut und Böse, der universellen Anwendbarkeit von Menschenrechten, um berechtigte Selbstverteidigung oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Und es geht unausgesprochen um die Frage der Ausweitung der moralischen Sphäre angesichts eines Zeitgeists, der mit Real- und Geopolitik dem bedenken- und skrupellosen Sachzwang huldigt.

Im Zentrum des Buches stehen das „umjubelte Massaker“ vom 7. Oktober 2023, seine Folgen, die Reaktionen darauf und das weltweite Hochkommen eines neuen Antisemitismus, der die Kolonialismus-Kritik gegen die in dem Pogrom genozidal verfolgten IsraelInnen wendet.

Leider geht Gauß in keinem eigenen Beitrag auf den Freiheitskampf der Ukraine, der sich der gefährlichsten faschistisch-totalitären Macht der Gegenwart entgegenstellt, ein.

Gauß‘ Ausgangspunkt ist Jean Améry, der in seinen späten Schriften vor einem aus vulgärer Kapitalismus-Kritik und geschichtsblindem Antizionismus sich zusammenbrauenden linken Antisemitismus warnte. Es ist Améry, der in seinen philosophischen Schriften eine Remoraliserung der Gesellschaft forderte, während die neu erwachte „Linke“ die Moral stets nur als das Einengende, Bedrückende wahrzunehmen vermochte. Die „Linke“ war sich nicht bewusst, dass sie im Befreiungstaumel der Entmoralisierung noch nicht aus den Schnürstiefeln mordender und sengender Altvorderer geschlüpft war.

Gauß‘ Vorbehalte gegen den frequenten antikolonialen Antiimperialismus sind in dem titelgebenden Essay gebündelt, in dem er auch aufzeigt, dass manche mit der Inbrunst der Radikalität vorgetragene These auf blanker Unwissenheit der AktivistInnen beruht.

Gauß meint, die antikolonialen AktivistInnen setzten den „globalen Süden“ und die revoltierenden Kolonialvölker auf das leer gewordene Postament der revolutionären Arbeiterklasse. Sie blenden aber damit vor allem einmal die eigene Geschichte und die Widersprüche, von denen sie selbst getrieben sind, aus. Revolutionär war die Arbeiterklasse nie „an sich“, nie jenseits ihrer von Sowjetmarxismus, Faschismus und Nationalsozialismus zerstörten Kultur, ihrer Bildungsvereine, Volkshäuser, ihrer Tagespresse. Revolutionär werden konnte die Arbeiterbewegung nur in einer besonderen historischen Konstellation von Philosophie, Nationalstaat, bürgerlich-demokratischer Bewegung werden, indem sie dem Drängen nach dem demokratischen Staat Nachdruck verlieh. Doch endgültig obsolet wurde eine revolutionäre Perspektivierung des Kampfs der Arbeiterklasse durch den Triumph der Bolschewiki und Maos Machteroberung in China, durch die ganze grauenhafte Geschichte der unter kommunistischen Diktaturen im Namen der „Notwendigkeit“ vollbrachten Untaten.

Die Idee, dass die Arbeiterklasse das Ganze der Gesellschaft nach ihren Interessen zu organisieren vermöge, ist damit dauerhaft diskreditiert.

Die Antikolonialen und zugleich Antinationalen, die sich das Individuum aus seinen vielfachen Bezügen im Gemeinwesen herausschneiden und auf seine Hautfarbe reduzieren, stoßen mit ihrem Getrommel frontal zusammen mit jenen Kräften, die auf ehemals kolonialen Territorien die Etablierung neuer Nationalstaaten mit Gewaltentrennung, Gewaltmonopol, Rechtsstaatlichkeit, Parlamentarismus anstreben. Propagandistisch stehen die Antikolonialen dabei im Bündnis mit den Despoten, die Zustände der Hegemonie erbittert gegen eine Weltwirtschaft verteidigen, die wie ein starkes Meer an den Grundfesten überkommener Herrschaftsverhältnisse nagt. Die Antikolonialen, die sich gerne mit vergangenen Rebellionen wie dem algerischen Freiheitskampf identifizieren, sind die sich selbst karikierende Erscheinungsform des Nichtwissens um Jahrhunderte sozialer Kämpfe, des Ringens um Wahl- und Niederlassungsfreiheit, Gleichstellung der Frau, gegen Folter, Todesstrafe, Hunger, Analphabetismus, Kämpfe, die die Grundlage dafür geschaffen haben, dass die Arbeiterklasse nicht mehr revolutionär sein muss, um ihre Existenz zu sichern.

Gauß‘ neues Buch regt zum Weiterdenken und Weiterschreiben an, wie es sich für gute Essays gebührt. Teilen möchte man mit Gauß die ungebrochene Freude am treffenden Ausdruck, mit der er Leserin und Leser in seinen Schriften willkommen heißt.

Published inNeuerscheinungenZwischenwelt International
Konstantin Kaisers Blog
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