Ad: Ausgedehnte Gegenwart
Rezension von Helmuth Schönauer
Manchmal kommt man als Künstler oder Wissenschaftler ganz woanders heraus, als man seine Karriere gestartet hat. Die wahren Lebensaufträge lassen sich nämlich nicht planen, sondern nur abarbeiten bis zum abgerundeten Ende.
Konstantin Kaiser ist während seiner Forschungen und Aufschreibungen auf Theodor Kramer (1897-1958) gestoßen und quasi zu seinem Wiedergänger geworden. Das wird rundherum als Kompliment gehandelt, denn über die Theodor Kramer Gesellschaft, deren Sekretär er lange war, ist Konstantin Kaiser wichtigster Interpret und Aufbereiter jener Literatur geworden, die man in Österreich gemeinhin als Literatur des Exils und Widerstands subsumiert.
Das wissenschaftliche und essayistische Werk aus dieser Beschäftigung wird freilich durch einen dritten Erkenntnisstrom unterstützt und vollendet, durch die Gedichte. Wenn die Wissenschaft an die Grenzen ihrer Formulierbarkeit stößt, bietet sich Lyrik manchmal als Ausweg an, um das Unsagbare dann doch noch auf die Zeilen zu kriegen.
Die Gedichte der „ausgedehnten Gegenwart“ lassen sich naturgemäß als Beifang zu politischer und existentieller Analyse lesen, dann aber auch als Gedichte in ihrem unbeschwerten Ausfluss, wie etwa Bilder aus einem Familienalbum herausfallen, wenn sie darin schlecht eingeklebt worden sind.
Statt eines Vorworts ist daher eine Collage aus einer bereits gehaltenen Rede Theodor Kramers und der zu erwartenden Einstimmung des Autors vorgestellt. Die einzelnen Gedankengänge sind dermaßen in einander verschränkt, dass eine neue Identität entsteht, die sich aus beiden Welten entwickelt. Jener des Beforschten und jener des Forschenden, der sein eigenes Leben durchaus aus der Erfahrungswelt des vorliegenden Meisters speist.
Ausgedehnte Gegenwart geht auf eine Äußerung Kramers zurück und wird zugespitzt zur Aufgabe, die diesem Lyrikband zuteil werden soll. „Gebt uns eine Gegenwart, / dehnt sie aus, macht sie weit, / dass wir uns finden können / diesseits von eurem Morgenrot.“ (7)
In den Eingangsgedichten wird dieses östliche Morgenrot mit zwei Bildern skizziert. Einmal ist es der Begriff der historischen Wallachei (10), worin besungen wird, wie die Herrschenden sich das Landvolk untertan gemacht haben, dem nichts anders bleibt, als sich an die nächstbeste Erde zu krallen. „Seht an den Bruch, die Erde schwarz und weich und feucht.“
Und zum anderen mit dem beinahe cineastischen Bild „kleine rumänische Tankstelle“ (13), wobei ein körperlich Versehrter in Armut und Ehre, welche hier regieren, den Durchreisenden Wasser ans Auto bringt.
In diesen Gestus von historischer Epoche, Landschaft und soziale Durchpflügung der Gegenwart sind die besagten Bilder eingepasst, die aus dem eigenen Familienbereich, der Literaturgeschichte, literarischen Landstrichen und historiographischen Grotesken frisch aus der Erinnerung herausgestanzt sind.
Vater Ferdinand berichtet von einem kurzem Ausflug aus dem Innsbrucker Polizeigefängnis Anfang 1938, als er beim Schmuggeln eines Geldbetrages für die Internationalen Brigaden aufgegriffen worden war. (22)
An anderer Stelle wird ein Apfel aus Mauthausen zum Mittelpunkt, weil sich in ihm wie in einem Augapfel der Geschichte das Elend des Lagers kurz aufschreiben lässt. (52)
Im Pflegeheim werkelt ein kleingewachsener Pfleger und trägt Obsorge um die Mutter. Noch heute wohnt er in einer Schachtel mit den Erinnerungsstücken an die Mutter, aber jedes mal, wenn sie geöffnet wird, steigt er heraus und wird zu einem ritualisierten Seufzer: Ja der Josef! (64)
Protagonisten der Literaturgeschichte liefern zwischendurch stützende Information für ein Gedicht. Anita Pichler, Peter Kreisky, Manfred Wieninger sind zu lyrischen Stores verwoben, die das Bedeckte umso sichtbarer machen. Zitate aus ihren Werken, Begegnungen bei Veranstaltungen und wohlkalkulierte Thesen stützen diese Gedichte, die in wenigen Zeilen ein Gesamtwerk zu beschreiben vermögen.
Berthold Viertels Gedicht aus dem Winter 1939 wird jäh in die Gegenwart gerissen durch eine neue Überschreibung: „Der begonnene Krieg“. (85)
Und Konstantin Kaiser wäre nicht ein sorgfältiger Sekretär eines Projekts, wenn er nicht ein lange austariertes Fazit hätte.
„Fazit // Was nie Gegenwart war / ist nie geschehen. / Je mehr Gegenwart du dir schaffst / desto mehr kann dir geschehen. / Vielleicht ist es besser, / sich bloß auf einem schmalen Streifen Gegenwart / zu bewegen und all die Gefahren / wären entweder schon vergangen / oder kämen erst auf uns zu. / Einander finden können wir uns / dann nicht mehr.“ (89)
Der Begriff der ausgedehnten Gegenwart zwingt natürlich noch zu einem assoziativen Verweis auf Alexander Kluge, der manche seiner Projekte mit „Gedehnte Gegenwart“ umschreibt. In dieser Dramaturgie fühlt sich die Gegenwart oft länger und intensiver an, als es der vorgeblich objektiven Zeitmessung entspricht.
Bei Konstantin Kaiser heißt es über dieses Phänomen: „Das Gesicht bleibt / das Gesicht deiner Hände / die Wärme deiner Hand.“ (84)
Helmuth Schönauer, geb. 1953 in Innsbruck,ist Schriftsteller und Satiriker. Schönauer war Bibliothekar an der Universität Innsbruck und verfasste sechs Bände seines “Tagebuch eines Bibliothekars”. Seit seiner Pensionierung setzt er die Reihe als “Buch in Pension” fort. Schönauer gilt als der Rezensent der Tiroler Gegenwartsliteratur. http://www.schoenauer-literatur.com/