Von Konstantin Kaiser
Der Fall Morin. Erstes Kapitel
Edgar Morin: Von Krieg zu Krieg. Von 1945 bis zur Invasion der Ukraine. Hg. von Werner Wintersteiner und Wilfried Graf. Aus dem Französischen von Werner Wintersteiner. Wien, Berlin: Turia + Kant 2023, 216 S.
Eine „Warnschrift“ soll das Buch dem Willen der Herausgeber zufolge sein, was es aber enthält, ist eine Fülle von mit großer Gewichtigkeit vorgetragener Banalitäten und belehrend in vergrößerter Schrift wiedergegebener Allerweltsweisheiten.
Zum Beispiel gleich auf Seite 7: „Jeder Krieg bringt Verbrechen mit sich…“ Der Satz erinnert fatal an die in Österreich immer noch landläufige Redeweise, im Krieg sei „viel Schreckliches passiert“, womit der sich verselbständigenden Dynamik des Krieges zugeschrieben wird, was doch die Folge eines zu verantwortenden Handelns von Personen ist, ob sie es nun auf Befehl tun oder aus eigenem Antrieb. Die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht kann und darf keinem unterstellten dämonischen Selbstlauf des Krieges überantwortet werden, so massenhaft die Untaten sind.
Damit ist auch schon der grundlegende Mangel von Morins Buch genannt. Es stärkt nicht das Unterscheidungsvermögen, es relativiert und schwächt es. Es geht heute nicht darum, Kriegsverbrechen aufgrund ihrer Komplexität mit der Geschichte des Konflikts und der psychischen Disposition der Beteiligten zu entschuldigen, sondern darum, sie zu brandmarken und nach Möglichkeit zu bestrafen.
Ein unentschuldbares Kriegsverbrechen großen Ausmaßes will Morin in den alliierten Flächen-Bombardements 1944/45 deutscher Gebiete und Städte sehen. Sie zielten aber darauf ab, den deutschen Willen, den strategisch schon verlorenen Krieg weiterzuführen, zu brechen. Es spricht für die Einfalt dessen, was da unter dem Titel Complexité an Mann und Frau gebracht werden soll, wenn unerwähnt bleibt, dass im selben Zeitraum von deutscher Seite die ungeheuerlichsten Verbrechen des organisierten Massenmords in den Gaskammern begangen wurden. Angesichts dessen waren die Flächenbombardements die militärisch zu diesem Zeitpunkt mögliche, durchführbare Antwort. Dass die Deutschen die Fähigkeit verloren hatten, zwischen dem Leid, das Ihnen widerfuhr, und dem Leid, das sie anderen zufügten, einen Zusammenhang herzustellen, macht aus den Bombardements eo ipso kein Verbrechen, sondern wirft bloß die Frage auf, ob es nicht vielleicht auch andere Mittel gegeben hätte, die Deutschen vom Massenmorden abzubringen.
Die Frage des Kriegsverbrechens lässt sich nur im Zusammenhang mit den verfolgten Kriegszielen und Aktionen des jeweiligen Kriegsgegners beantworten, nicht auf Grundlage einer mehr oder weniger empörten humanitären Teilnahme am Geschehen, die den Unterschied zwischen verbrecherischem Angriffskrieg und gerechter Verteidigung nicht vollzieht.
Ganz anders verhält es sich mit den Plünderungen, Morden und Vergewaltigungen der Roten Armee nach der deutschen Kapitulation, mit denen weder das Ziel, den Widerstand Deutschlands zu brechen, noch das Ziel, das Leben von politisch und rassistisch Verfolgten in Lagern und Gefängnissen zu retten, verfolgt wurde. Diese massenhaften Vergewaltigungen und Morde waren Kriegsverbrechen, die zum allergrößten Teil ungeahndet und uns weitgehend unbekannt blieben, wurden sie doch nicht allein in Österreich und Deutschland begangen, sondern ebenso in der Ukraine und der Slowakei, in Rumänien, Ungarn, Polen.
Dass bei Morin möglicherweise aufgrund der Unaufmerksamkeit seiner Übersetzer die Anzahl der Opfer der Bombardierung Dresdens im Februar 1945 der Nazi-Propaganda folgend mit 300.000 (mehr als das Zehnfache der tatsächlichen Anzahl!) angegeben ist, verstärkt den Eindruck, es gehe hier weniger um Erkenntnis als um Schuldzuweisung, die instrumentalisiert werden kann, etwa als Präjudiz für eine Verurteilung des israelischen Vorgehens im Krieg gegen die Hamas. Auch hier, im Falle Hamas-Krieg, urteilt humanitäre Anteilnahme, indem sie sich des Urteils entschlägt.
Die französische Philosophin Sophie Chassat resümiert ihre Einleitung zu ihrer Kritik von Edgar Morins vielgerühmter Complexité als einer Ideologie mit den Worten:
„Heute ist die Komplexität keine befreiende Idee mehr. Sie ist ein Denkhindernis geworden, das man überschreiten muss.“ Und weiter: „Komplexität ist zu einer Ideologie geworden, die ihren Namen verschweigt. Komplexität ist ein Refugium der Ignoranz.“
Von dieser Ignoranz legt Morins Buch Zeugnis ab. Angesichts der vielen Halbwahrheiten und falschen Behauptungen Morins kann man geradezu von einer Verachtung jeglicher Genauigkeit sprechen. Wenn er von Terrorbombardements in Europa spricht, vergisst er, dass nicht Rotterdam, sondern die baskische Stadt Guernica zu allererst durch die deutsche Legion Condor bereits 1937 dem Erdboden gleichgemacht wurde. Das ist darum nicht ohne Bedeutung, weil die faktische Duldung dieses Terrors durch die Westmächte die späteren deutschen Terrorbombardements ermutigte; ein schlimmes Exempel aus der Geschichte, das sich gegenwärtig nach dem ungeächtet gebliebenen russischen Terrorbombardements syrischer Städte im russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine wiederholt.
Edgar Morin verkündet (S. 35) bombastisch die Trivialität, dass im Krieg gelogen werde und entdeckt zugleich, dass auch die Ukraine so wie alle anderen Kriegsbeteiligten auch zu lügen pflege. Zu dem Behufe vergleicht er die sowjetischen Lügen über das Massaker von Katyn mit einer von ihm nicht belegten ukrainischen „Lüge“, es sei keine ukrainische Rakete gewesen, die im November 2022 ein polnisches Grenzdorf getroffen und zwei Todesfälle verursacht habe.
Morin setzt ein großes, mit Absicht und in bewusster Organisation durchgeführtes Verbrechen gleich mit einem Vorfall, in dem der Zufall eine Rolle spielt und dessen Folgen vergleichsweise gering waren.
Die sowjetische Lüge über den Massenmord von Katyn hat wohl eine ganz andere Qualität der Scham- und Ehrlosigkeit als die Versicherung der Ukraine, keinesfalls absichtlich eine Rakete auf ein polnischen Grenzdorf abgeschossen zu haben. Beides geschah zu sehr verschiedenen Zeiten, und es ist nahezu grotesk, die Behauptungen über die Vorgänge miteinander zu vergleichen oder gar als gleichermaßen gelogen vom Tisch zu wischen.
Die für Edgar Morin und seine Übersetzer und Herausgeber wesentliche Aussage aber ist: Alle lügen sie. Wer sich davon leiten lässt, prüft die wüste Propaganda des Aggressors nicht mehr nach, in die Morin, sich über den Dingen stehend gebärdend, einstimmt.
So suggeriert Morin (S. 44 und auch an anderen Stellen), die ukrainische Unabhängigkeitsbewegung sei identisch gewesen mit der von Stepan Bandera geführten nationalistischen Gruppe, welche aber erst in Reaktion auf das sowjetische Menschheitsverbrechen des Holodomor zunehmende Geltung erlangte. Unterstellt wird hier gegen besseres Wissen auch, ukrainisches Streben nach Unabhängigkeit sei erst in den 1920er Jahren erstanden.
Und so bleiben andere bedeutende Leitfiguren des ukrainischen Unabhängigkeitsstrebens bei Morin unerwähnt. Von keinem Hruschewskyj, keinem Taras Schewtschenko, keinem Iwan Franko und Lepinsky ist die Rede. Diese den Leser für dumm verkaufende denunziative Einschränkung der ukrainischen Befreiungsbewegung auf eine als faschistisch denunzierte radikale Gruppe ist nichts als Kreml-Propaganda der übelsten Sorte.
Schlampig, doch nicht ohne Absicht geht Morin auch mit Jahreszahlen um, datiert den Holodomor auf 1931 statt 1933 und stellt ihn damit in den Zusammenhang des Kampfs gegen das sogenannte Kulakentum. Doch 1933 ging es nicht um Dorfarmut und reiche, selbstwirtschaftende Bauern, sondern schlicht um die unterschiedslose Dezimierung der Bevölkerung in zentralen Gebieten der Ukraine mit den wahnwitzigen Zielen, sie dauerhaft gefügig zu machen und das für den sozialistischen Aufbau zur Verfügung stehende Mehrprodukt durch Ermordung seiner möglichen Verzehrer zu mehren.
An dieser Schwelle der Geschichte erwies und erweist sich der Sowjetkommunismus für immer als Ideologie der Barbarei, der es zu wehren gilt.
Unkenntnis verbreitet Morin auch über Sprachenfragen. So behauptet er (S. 45), in der Ukraine sei russische Literatur verboten, was schlicht und einfach erlogen ist. Kein Wort verliert er über die lange Geschichte der Unterdrückung der ukrainischen Sprache im zaristischen Russland (1863 Verbot der ukrainischen Sprache im russischen Reich; fast gleichzeitig erfolgten andere Sprachverbote wie. z.B. 1864 das Verbot litauischer Literatur) und in der Sowjetunion bis 1991. Kein einziger Name der zahlreichen ukrainischen SchriftstellerInnen, die der russischen Verfolgung in den Lagern zum Opfer gefallen sind oder in den Kellern des NKWD mit Genickschuss ermordet wurden, wird genannt.
Zwischendurch eingestreut findet sich ein Ausfall gegen die französischen Medien, deren Berichterstattung Morin zu misstrauen berechtigt zu sein glaubt, weil sie nur aus der Ukraine und nicht aus Russland berichten, was auch schlicht und einfach falsch ist. Dass Berichterstattung aus der Russischen Föderation JournalistInnen ins Gefängnis bringen kann, ist Morin und seinen Herausgebern auch nicht aufgefallen. Sie hätten in einer Anmerkung vielleicht auf die wiederholten Verhaftungen westlicher JournalistInnen in der Russischen Föderation hinweisen können.
Ein anderes Beispiel der in diesem Fall „systemischen“ Schlamperei findet sich auf Seite 47. Morin behauptet, Deutschland habe erst nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 Massenmorde an Jüdinnen und Juden organisiert und vollbracht. Dass das Massenmorden 39-41 in den aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts in den Deutschland überlassenen Teilen Polens längst schon begonnen hatte, wird bei Morin bewusst ausgeblendet, ereignete es sich doch in einer Wonnezeit deutsch-sowjetischer Freundschaft. Morin erwähnt natürlich auch die Massendeportationen aus den baltischen Staaten und aus der Bukowina durch die Sowjets im Juli 1940 nicht; von diesen Deportationen waren überproportional viele Jüdinnen und Juden betroffen.
Noch ein Beispiel: Die innerjugoslawischen Kriege sind für Morin mit Camp David 1995 beendet, den Kosovokrieg 98-99 unterschlägt er. Die Intervention der NATO erscheint damit als anlassloser, völkerrechtswidriger Willkürakt.
Nur mehr von Ignoranz (S. 55) zeugt der Satz: „Jugoslawien umfasste slawische Völker mit gleicher Herkunft und Sprache durch „historische Schicksale Jahrhunderte lang getrennt“. – Also erging es ihnen ähnlich wie den Ukrainern, Weißrussen und Russen, die dereinst durch den Mongolensturm aus der Bahn großrussischer Reichsbildung geworfen wurden, der sie ihrer völkischen Natur nach zustrebten? Die Wahrheit dieser Sätze beruht auf der Unwissenheit ihres Verfassers.
In Jugoslawien existierten mehrere nicht-slawische Ethnien: Zwei bis drei Millionen AlbanerInnen, Wlachen, Ungarn, ItalienerInnen, Deutsche.
Seite 56 folgt der nächste historische Patzer: „Das nach dem Ersten Weltkrieg gebildete Jugoslawien“ hieß nicht Jugoslawien, sondern Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (SHS) und erhielt erst 1928 nach einem Staatsstreich des serbischen Königs den Namen Jugoslawien. „Jugoslawien“ stand hier nicht für Freiheit, sondern für deren Abschaffung.
Kreml-Propaganda in reinster Form ist Seite 83 die Lüge, der Euromaidan hätte 2014 die Abspaltung eines Teils des Donbas von der Ukraine ausgelöst. In die Europäische Union hätten wohl auch die Bewohner des Donbas gewollt. Ohne das militärische Eingreifen der Russischen Föderation hätte es keine „Abspaltung“ gegeben.
Edgar Morins Buch ist eine Schande. Ein nächstes Kapitel wird u.a. den „Friedensforschern“, die es herausgegeben haben, gewidmet sein.
Auch Israel-Skeptikern hat Morin etwas zu bieten. Seite 58 verkündet er, der israelisch-palästinensische Konflikt hätte eindeutig mit der Gründung einer zionistischen Kolonie auf arabischem Gebiet begonnen. Seite 60 folgt dann die Behauptung: „Israel ist ein hypernationaler und kolonialer Staat.“
Um des Kontrast Russlands zu den USA herauszustreichen, behauptet Morin schlicht und falsch, in Russland hätte es keine Sklaverei gegeben. Es beruhte jene Rus (Reich), die Morin als gemeinsame Wurzel von Klein- Weiß- und Großrussen sieht, ganz erheblich auf Sklavenhandel. Man könnte sagen, die Sklaverei oder besser die Versklavung und Beraubung anderer Völker sei die eigentliche Grundlage der russischen Kultur.