Am kommenden 12. März werden seit dem „Anschluss“ 87 Jahre vergangen sein.
Vier Titelseiten, die die gesamte Dramatik des März 1938 in Österreich einfangen:
- Am 11. März noch die Euphorie darüber, dass Österreich nach dem “Berchtesgadener Abkommen” (12. Februar 1938) mit der für 13. März angesetzten Volksabstimmung die Flucht nach vorne angetreten hat, um eindeutig und klar vor der ganzen Welt zu demonstrieren, dass eine Aufgabe der nationalen Souveränität und ein Anschluss an Deutschland nicht in Frage kommen.
- Am 12. März (in der Nacht ist Schuschnigg zurückgetreten und die deutsche Wehrmacht, ohne auf Widerstand zu stoßen, in Österreich einmarschiert) hat bereits eine Quislingregierung unter Seyß-Inquart (seit Berchtesgaden österreichischer Innenminister, am 16. Oktober 1946 in Nürnberg als Kriegsverbrecher durch den Strang hingerichtet) die Macht übernommen.
- Am 13. März ziert schon “der Führer”, das Titelblatt. Er hat am Vortag die Grenze überschritten, um sich in seiner Geburtsstadt Braunau und danach in Linz feiern zu lassen.
- Am 14. März ist “der Anschluss” vollzogen. Die “österreichische Regierung” hat, nachdem sie die Volksabstimmung verschoben hat, ein Verfassungsgesetz verlautbaren lassen, wonach Österreich “ein Land des Deutschen Reiches” ist und am 10. April eine Volksabstimmung “über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich” stattfindet.
Der Rest ist bekannt. Binnen kurzer Zeit gehört Österreich der Vergangenheit an – mitsamt seiner “Regierung” des nationalen Verrates (eines dieser “Regierungs”mitglieder wird es übrigens – 18 Jahre danach und eine Verurteilung wegen Hochverrats später – zum ersten Obmann der neugegründeten FPÖ bringen). Und die “Volksabstimmung” (Juden, resp. jene, die als Juden “gelten”, sind von der Teilnahme ausgeschlossen) erbringt das vollkommen unglaubwürdige Ergebnis von 99,75 Prozent “Ja”-Stimmen für den “Anschluss”.
Diese vier Titelseiten könnten vielleicht all jenen, im In- wie im Ausland, Grund zum Nachdenken geben, die das Österreich der 30er Jahre, wie es der heutzutage vorherrschenden Sichtweise entspricht, einfach und pauschal als Naziland klassifizieren, das sich dem Deutschen Reich und damit auch dem Nationalsozialismus bereit- und freiwillig angeschlossen hat. So einfach ist das nämlich wahrlich nicht.
Fakt – und somit keiner weiteren Diskussion würdig – ist es, dass die Republik Österreich in der Nacht vom 11. auf den 12. März 1938 Opfer eines bewaffneten Überfalls seitens eines Nachbarstaates wurde. Dass sich die österreichische Armee diesem Überfall (mangels Einsatzbefehl) nicht entgegenstellte, sorgt zwar bis zum heutigen Tag zu recht für Diskussionen, vermag aber daran nichts zu ändern. Wie es mit Fakten nun einmal ist.
Fakt ist auch, dass in weiten Teilen Österreichs, nach Anordnung der Volksabstimmung (9. März 1938) große Aufbruchsstimmung herrschte, es zu intensiven Kontakten des Regimes mit der bis dahin unterdrückten Opposition kam, mit dem Ziel einer Art nationalen Schulterschlusses, dass Hitler von Schuschnigg ganz unverbrämt die sofortige Absage der Volksabstimmung verlangte und dass der deutsche Überfall nicht zufällig einen Tag vor eben dieser Volksabstimmung stattfand. Auch viele Zeitgenossen waren übereinstimmend der Meinung, dass diese Volksabstimmung ein klares Bekenntnis zur österreichischen Souveränität erbracht hätte.
Fakt ist natürlich auch, dass die nationalsozialistische Unterdrückungs- und Mordmaschinerie ihre Arbeit bereits in der Nacht von 11. auf den 12. März aufnahm und das Klima im Land schon lange vor der für 10. April angesetzten “Abstimmung” (am 2. April 1938 kam es zum ersten sogenannten “Prominententransport” nach Dachau) durch Angst und Schrecken vor dem Naziterror gekennzeichnet war.
Diese vier Titelseiten mögen auch als Mahnung dafür dienen, wie wenig Zeit benötigt wird, die Realität dermaßen verzerrt darzustellen, dass sie von allen nicht unmittelbar Beteiligten als ihr schieres Gegenteil wahrgenommen wird – solange nur die dazu benötigte Macht vorhanden ist. Was Österreich betrifft, ist ja der daraus resultierende üble Nachgeschmack fast neunzig Jahre danach immer noch deutlich wahrnehmbar und es gehört bei uns längst zum Common Sense, den Opferstatus Österreichs vom März 1938 unreflektiert zwischen höhnische Anführungszeichen zu setzen.
Gerade die letzten Jahre liefern tragische Beispiele dafür, wie sich die Geschichte unverändert fortschreibt. Ob sich die Krim freiwillig an Russland angeschlossen hat, oder auch Teile von Donezk oder Luhansk – das ist heutzutage, auch nach über drei Jahren des darauffolgenden offenen russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine, tatsächlich immer noch Gegenstand von ernsthaften, oder zumindest Ernsthaftigkeit vortäuschenden, Diskussionen.
Kein Zweifel kann daran bestehen, dass es auch in der Ukraine zu solchem “Anschluss” gekommen wäre – wäre die ukrainische Regierung (wie 1938 die österreichische) “der Gewalt gewichen”. Ein Hinweis darauf, dass es wohl die bewaffnete Gegenwehr ist, die den Unterschied ausmacht. Daraus könnten und sollten wir in Österreich doch eine Menge lernen.
Gustav Freudmann