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Besuch in der Sowjetunion 1981

Von Konstantin Kaiser

Die Schlafwagenzüge und elektrischen Anlagen in den Hotels sind aus der DDR, die Autobusse Marke Ikarus aus Ungarn. Die UdSSR hat jetzt 262 Mio. Einwohner, 16 Mio. Parteimitglieder, 42 (nach anderer Angabe 36) Mio. Komsomolzen. Die Ukrainische SSR hat 50 Mio. Einwohner und 600.000 km2. Kiew hat 2,4, Moskau über 8, Leningrad über 5 Mio. Einwohner. 41-Stunden-Woche. 70 Rubel Mindestlohn.

Sophienkathedrale. Die alte Kiewer Rus sei durch die Mongolen zerstört worden. dadurch seien die Unterschiede zwischen Ukrainern, Großrussen und Weißrussen erst entstanden.

Das Reiterstandbild des Hetman Chmelnitzki zeigt mit dem rechten Arm nach Moskau (Skulptur von 1890). Im Sockel die Jahreszahl 1653.

Die Kathedrale als einziges Gebäude aus jener Glanzzeit verblieben. Bei den Renovierungen im 18. und 19. Jhdt. wurde ein Teil der alten Gemälde übermalt. Die Kuppeln auch aus späterer Zeit. Der weiße Bewurf: russisches Barock, ursprünglich nackter Ziegelbau.

Siglinde Bolbecher unterrichtete damals an einer Schule, an der auch Russisch gelehrt wurde. Die Schule nahm daher an dem von der österreichisch-sowjetischen Gesellschaft organisierten „Jugendzug“ teil; da konnten auch Lehrende der Schule und deren Angehörige zu günstigem Preis mitfahren. Die Reise führte von Wien über die Slowakei und Transkarpatien nach Kiew. Der Zug war fast 24 Stunden unterwegs; bemerkenswert war die heikle Kontrolle bei der Einreise auf russisches Gebiet, Fotoapparate, Radios und anderes Gerät waren zu deklarieren und das Gepäck wurde von einem, der ein mit besonderem Spürsinn begabter Spezialist zu sein schien, mit gespreizten Fingern, die spitz und lang über den Gepäckstücken kreisten, einer magisch wirkenden Untersuchung nach eingeschmuggeltem Geld und verbotenen Südfrüchten wie zum Beispiel Orangen unterzogen. In mindestens einem Fall wurden die ungeschickt verborgenen Geldscheine eines Mitreisenden durch die vorherige Requirierung der Orangen gerettet. All die Zettel, die bei der Zollkontrolle ausgefüllt und eingesammelt wurden, fanden sich bei der Ausreise in Leningrad am Flugplatz prompt wieder, allerdings in Form eines großen Haufens von durcheinander geworfenen Formularen, in dem die Beziehung zwischen den abreisenden Personen und den bei der Einreise ausgefüllten Zetteln unmöglich wieder herstellbar schien. In der Tat scherte sich auch niemand um diesen Haufen Papier. Er war aber da. Insofern funktionierte die sowjetische Bürokratie bis hin zur Unüberschaubarkeit.

Die Mitreisenden waren, wie sich herausstellte, meist keine Jugendliche, sondern erwachsene Leute, die offenbar glaubten, an einer Art Fotosafari teilzunehmen denn wo immer wir hinkamen, zückten sie ihre Geräte und hatten sich satt gesehen, wenn sie ihre Aufnahmen gemacht hatten – und zurück ging es zum wartenden Autobus.

Schon im Zug nach Kiew waren die sanitären Verhältnisse problematisch, schlimmer noch war es im Hotel International in Kiew, wo wir zu einem Frühstück empfangen wurden und sich in der einzigen Toilette für einen Speisesaal mit 400 Gedecken kein Papier, aber ein selbsttragender Haufen Scheiße fand. Vielleicht war das eine ukrainische Begrüßung für systemfromme Sowjettouristen, die von den wirklichen Gewaltverhältnissen im Land nichts wissen wollten.

Eingedenk dieser Erfahrung deckten wir uns in Kiew mit einem goldfarbenen ukrainischen Schnaps ein, von dem wir annahmen, dass er bei aller Bedrängnis der Gedärme zu einer Kontraktion des Darminhalts beitragen und damit für ein längeres Durchhalten bis zum nächsten benutzbaren Abtritt verhelfen könne. Ins Gespräch kamen wir bei dieser Reise mit Mitreisenden kaum. Ich erinnere mich lediglich, an Gesprächsfetzen mit unserer litauischen Fremdenführerin, die mit uns auch heimlich Englisch sprach und erwähnte, diese Tätigkeit als Fremdenführerin sei ein Privileg, das man ihr beim geringsten Verstoß gegen die Regeln wieder entziehe. Sie hätte auch kein Trinkgeld nehmen dürfen, wir drängten ihr am Schluss der Reise eines auf.

Illustration: Konstantin Kaiser

Ich erinnere mich noch an den einzigen russischen Mann, mit dem ich bei dieser Reise ins Gespräch gekommen bin. Er wandte sich vielleicht deshalb an Siglinde und mich, weil wir einen etwas bunteren Eindruck machten als unsere Mitreisenden, von denen er vermuten musste, dass sie am Ende stramme österreichische Kommunisten waren, die ihrer Reiseleitung am Ende zutrügen, Aufrührerisches oder Unpassendes von einem Russen gehört zu haben.

Es war in Moskau in einem Jugendzentrum, weit weg vom Stadtzentrum, in das man uns geführt hatte, um uns offenbar die große Fürsorge des Staates für die Jugend zu demonstrieren. Das Gesicht des jungen Mannes, der uns mit leiser Stimme angesprochen hatte, war rötlich von einem Ausschlag; wir unterhielten uns in gebrochenem kümmerlichen Englisch; er versuchte mir etwas als eine Botschaft mitzugeben. Irgendwas an ihm war auffällig, er hatte etwas verletzlich Offenes im Gesicht. Es ging ihm vordergründig darum, dass er die sowjetische Intervention in Afghanistan ablehnte, und vielleicht auch fürchtete, als Rekrut dorthin geschickt zu werden, aber für eine Intervention in Polen, die dann in der angedrohten Form nicht stattfand, sehr viel Verständnis hatte. Auch er, der nicht einverstanden war damit, wie in Russland über Menschen verfügt wurde, war völlig befangen in dem alten imperialen Ansprüchen des Zarenreichs, Stalins und der Sowjets über die slawischen und baltischen Länder Osteuropas zu gebieten. Vielleicht dachte er panslawistisch. Das Gespräch zwischen uns versiegte, als sich ganz unauffällig jemand neben uns schob.

Für die Gäste aus dem Ausland wurden auf einem Tischchen in dem Jugendheim Lachs- und Kaviarbrötchen angeboten, und es gab Krimsekt in irgendwelchen kleinen Gläschen. Doch gab es das, wie wir herausfanden, dort nicht alle Tage und war auch für jemanden, der sein Geld in Rubeln verdienen musste, viel zu teuer. Erinnerlich sind wieder die Toiletten, eine Reihe von Kloschüsseln, die nebeneinander in einen Betonsockel eingelassen waren, ohne Zwischenwände und Türen. Raum für Intimität ließen sie also nicht, sie signalisierten ein in die Tiefe intimer Verrichtungen hinein überwachbares Leben. Freilich, auch in der in Carnuntum rekonstruierten Römertherme findet sich eine ähnliche Anordnung zweckdienlicher Sitzgelegenheiten und mit ihr die eklige Vermutung heiterer Männergespräche während der Verrichtung. Auch hier hütete einst kein falsches Schamgefühl bürgerliche Privatheit.

Ob auch die öffentliche Anlage des Jugendzentrums von anderen Teilnehmern der „Fotosafari“ für den Lichtbildvortrag in der Heimat verewigt wurde? Vermutlich herrschte Fotografierverbot.

Trotz der allgemeinen Fotografierwut kam es in Moskau zu einer kleinen Liebesgeschichte von einem österreichischen Jungen mit einem russischen Mädchen. Ein Rendezvous fand statt! Der Junge erschien dann zum Abflug erst nach seiner Vernehmung und wir flogen mit dreistündiger Verspätung nach Wien.

Ich muss hinzufügen, dass ich seit dieser Reise vom bevorstehenden Zusammenbruch des Sowjetsystems überzeugt war. Nicht ob des Wenigen, das ich zu sehen bekommen hatte, sondern angesichts der spürbaren Verdrossenheit der Menschen, einer allgemein merkbaren Unlust, weiter mitzuspielen in der „großen Inszenierung“, vor allem aber angesichts der völligen Formelhaftigkeit und mimischen Erstarrtheit der VertreterInnen des Regimes. Diese wollten in Wirklichkeit immer schon nur eine Bourgeoisie sein in ihren schweren Mänteln und Limousinen, Nerzkrägen und -mützen. Armseligkeit war ihnen schandbar, Neugier fremd. Die KPÖ setzte damals immer noch auf die Werbung mit und für den Großen Bruder.

Russische Föderation. Postsowjetische Übel

Man muss von der Erkenntnis ausgehen, dass der Sowjetsozialismus den Klassenkampf nicht überwunden, sondern unterdrückt hat: Am Ende dieser Unterdrückung jeder sinnstiftenden Kontroverse, dieses Exports allen Widerspruchs in die ‚eherne Notwendigkeit‘ der Lager und der blutigen Massaker kommt das nackte Gerippe der Klassengesellschaft wieder zum Vorschein. Sie hatte nie aufgehört zu bestehen. Man kann eine herrschende Klasse stürzen, aber keine Gesellschaftsordnung. Die „Oligarchen“ und die Willkür der Geheimdienste sind die wahren Resultate des Sowjetregimes.

Vom NS-Faschismus hat sich gerade durch die eifrige Verdrängungsarbeit viel mehr und vieles viel länger erhalten als zu erwarten gewesen wäre. Analoges gilt für Russland. Aber hier geht es  zunächst um Staatskapitalismus.

Staatskapitalismus hat als Begriff die Schwäche, nicht die Produktionsweise zu benennen, sondern bloß ein dem Gewaltmonopol des Staates vergleichbares Ausbeutungsmonopol, das in territorial-imperialer Sicht ein den Zugriff anderer Interessen ausschließendes Extraktionsmonopol  ist. Ein „Sozialismus“, dessen Selbstreproduktion hier rätselhaft bleibt. Die Grundlage seines Funktionierens scheint nicht endende Vergeudung natürlicher und menschlicher Ressourcen, beruht also darauf, die Extraktion räumlich extensiv und intensiv zu steigern.

Staatskapitalismus zeichnet sich dadurch aus, dass er die im Bergbau und in den rohstoffverarbeitenden Kombinaten erzielten Erträge nicht einmal anteilig bei den Betrieben für Zwecke des Ersatzes von Amortisiertem belässt, sondern abzieht und zentralisiert. Das führt einerseits dazu, dass ganze Landstriche mit Industrieruinen und desaströsen Fertigungsstätten veröden, dass unter ruinösen Bedingungen, was Logistik, Transport, Ausstattung, Entsorgung von Abfall und Schadstoffen der Betriebe betrifft, gearbeitet werden muss und damit der Arbeitsproduktivität von vornherein Grenzen gesetzt sind, die unabhängig von der Leistungsfähigkeit der Arbeitenden sind. Sie können auch mit größter Anspannung ihrer Kräfte nur sehr bedingt ein besseres Resultat erzielen. Andererseits fördert der Überschuss an disponiblen Mitteln im Zentrum die Inszenierung von Großprojekten, sowie die überdimensionale Aufblähung des Sicherheitsapparates. Sie ist das repressive Gegengewicht zu der von dem System hervorgerufenen in immer neuen Schüben ausgehenden Destabilisierung, vergleichbar, einem Leck, das sich an immer anderen Stellen am Schiffsrumpf auftut und in panischer Anstrengung gestopft werden muss.

Mit der Abschaffung der Wahl der Gouverneure, ihrer Einsetzung durch die Zentrale wurde auch der Kampf über die Verfügung von Rücklagen zu Gunsten der Zentrale entschieden, die sich tendenziell als ein in sich abgeschlossenes rationales Teilsystem versteht. Das erklärt auch die besondere Art des tautologischen Lügens der Zentrale, des Begründens einer Lüge durch die andere und durch das simple starre Aufrechterhalten der Lüge. Dieses System kann nicht irren. Mit ihm ist all die Verwirrung der Jahre 1989-1996 behoben.

Das Sowjetsystem beruhte auf der Fiktion einer herrschenden Elite, der kommunistischen Partei, die aber die Herrschaft nur in der Korruption der Menschenverwaltung ausübte, im Alltag des Posten- und Grundstückschachers, der Denunziation und der Verteilung von Abzeichen. Die eigentliche Herrschaft bevorzugte Anonymität, agierte hinter den Kulissen der „großen Inszenierung“. Nur in der Projektion auf „die Mächtigen“ war die Partei an der Macht. Dass sie es nicht war, zeigte sich schnell nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Durch Entsozialisierung, Verlotterung, Rückständigkeit sank die Arbeitsproduktivität unter diesem Regime kontinuierlich, sodass es sich tendenziell immer weniger lohnte, das zentralisierte Mehrprodukt in Russland selbst zu investieren. Auch lässt sich das Mehrprodukt nicht beliebig zentralisieren, denn es besteht nicht nur in Geldform, sondern vor allem auch in Arbeitskräften, die zur Pflege, medizinischen Versorgung, für Kunst und Vergnügen zur Verfügung stehen. Kurz gesagt: Das Mehrprodukt lässt sich nicht gänzlich  kapitalisieren, es muss verteilt werden, und das ist auch eine politische Frage. Das Problem ist chronisch und führt zur Aufblähung weniger Großstädte. Die Rolle der Vermittlung zwischen dem brachliegenden Kapital, das bloßer Staatsschatz war, und den Produktionsstätten übernahmen die sogenannten Oligarchen.

Man  muss sich dazu aber den im Staatskapitalismus gepflegten Begriff von Eigentum ansehen. Denn hier, bei den Oligarchen, sind Eigentum und Macht dem Schein nach engstens verschwistert. Es scheint, die Neuen Herren traten zunächst als Wohltäter auf, zahlten zum Beispiel Löhne nach, richteten ein Heim für kranke Arbeiterkinder ein. (So Chodorkowski). Das aber musste mit Krediten finanziert werden. Und da ist zu vermuten, dass Konsortien westlicher Banken zumindest zum Teil hinter diesen Krediten standen, man also bewusst die Entstehung einer Art Kapitalistenklasse förderte, die allerdings aufgrund ihrer geringen Anzahl von Personen ihre Herrschaft auszuüben eigentlich nicht imstande war.

Es haben sich Dinge herausgebildet, die ganz unwahrscheinlich sind. Als hätte diese russisch-sowjetische Gesellschaftsmaterie gar keine eigene Struktur, sei eine beliebig knetbare Masse. Dies vermutlich der wichtigste Gesichtspunkt. Nicht zu vernachlässigen jedenfalls ist: Der soziale und nationale Zusammenhang erscheint hier nicht als durch die eigene Tat vermittelt, sondern als durch äußere Klammer erzwungene Schicksalhaftigkeit, aus tiefem Urgrund hervorsteigend, die direkt in einen Rassismus münden muss – es ist etwas Mystisches, das uns verbindet, die Kultur und die Rasse, es ist nicht unser eigenes Tun und Lassen und wir können dem nicht entfliehen. So scheint die Zukunft der russischen Föderation ihre Menschenentleerung.

Published inZwischenwelt im Exil