Wiederholt begegnet man nun in Aussendungen und auf Homepages literarischer und künstlerischer VeranstalterInnen Matthias Claudius‘ „Kriegslied“ mit den charakteristischen Zeilen
's ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
's ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!
Was sollt ich machen, wenn im Schlaf mit Grämen
Und blutig, bleich und blaß,
Die Geister der Erschlagnen zu mir kämen,
Und vor mir weinten, was?
Wenn wackre Männer, die sich Ehre suchten,
Verstümmelt und halb tot
Im Staub sich vor mir wälzten und mir fluchten
In ihrer Todesnot?
Wenn tausend tausend Väter, Mütter, Bräute,
So glücklich vor dem Krieg,
Nun alle elend, alle arme Leute,
Wehklagten über mich?
Wenn Hunger, böse Seuch und ihre Nöten
Freund, Freund und Feind ins Grab
Versammelten, und mir zu Ehren krähten
Von einer Leich' herab?
Was hülf mir Kron' und Land und Gold und Ehre?
Die könnten mich nicht freun!
's ist leider Krieg – und ich begehre,
Nicht schuld daran zu sein!
So berührend dieses „Kriegslied“ ist, so beschränkt ist seine Reichweite. Es drückt die Ohnmacht des holsteinischen Untertanen Matthias Claudius angesichts der „Kabinettskriege“ des ausgehenden 18. Jahrhunderts aus, im konkreten Fall des bayerischen Erbfolgekrieges 1778/79.
Es ist Krieg. Schicksalhaft. Claudius, wiewohl in der Huld seines Fürsten und des dänischen Königshauses stehend, kann keinen Einfluss darauf nehmen, kann nur seine Unschuld beteuern. Die Kriegsursachen bleiben unbenannt, bloß die schlimmen Folgen des Krieges werden ausgemalt. Bei deren Schilderung kommt in der Wendung „Was sollt ich machen…“ ein zaghafter Anflug von Mitverantwortung für das Geschehen auf.
Die beeindruckendsten Zeilen des Gedichtes waren für mich immer
O Gottes Engel wehre,
Und rede Du darein!
Dass nur mehr das Eingreifen einer höheren, jenseitigen Instanz, der himmlischen Heerscharen, zu helfen vermag, drückt die Verzweiflung des all das Leid mitfühlenden Dichters mit besonderer Intensität aus.
Doch die literarische Regression auf Claudius‘ Gedicht sagt vor allem etwas über die etwas aus, die sich des Gedichts bedienen, um sich als Friedliebende zu gebärden und zu diesem Behufe in das geistige Kostüm eines deutschen Bürgers in Zeiten der ausgehenden Feudalherrschaft schlüpfen, eines Bürgers zwar schon, doch ohne politische Rechte und Grundfreiheiten.
Wir aber leben heute unter den Bedingungen einer schwer errungenen demokratischen Republik, haben politische Grundrechte, die wir ausüben können, und und es bereitet kein Vergnügen, mit ansehen zu müssen, dass Menschen, die man für Zeitgenossen hielt, sich in ein neues Biedermeier, in eine Illusion der Rechtlosigkeit zurückflüchten, nur um weiter die Behaglichkeit der Verantwortungslosigkeit zu genießen.
Neuerdings wird von notorisch Wohlmeinenden wieder das Gerücht gestreut, dass bloß aufgrund US-amerikanischen Einspruchs die Waffenstillstandsverhandlungen von Istanbul im März 2022 abgebrochen wurden. So hat es schon Josef Haslinger im Juli 2022 unter die Leute zu bringen versucht. Dass praktisch zeitgleich mit diesen Verhandlungen die Beschlussfassung über weitere Sanktionen gegen das russische Finanzwesen auf der Kippe stand (was vermutlich der eigentliche Grund für Putins Bereitschaft zu die Sache verzögernden Verhandlungen war!), und die abscheulichsten russischen Besatzungsverbrechen in Butscha und Isjum gerade begangen wurden, blieb von Haslinger leider unerwähnt.
Jenseits des Getümmels der politischen und militärischen Geschehnisse siedelt Marlene Streeruwitz‘ „Handbuch gegen den Krieg“. Dieses bietet in vornehmem Leinenumschlag mit Silberprägedruck am Cover auf knapp 35 bedruckten Seiten (die Mehrzahl der Seiten scheint der Andacht gewidmet, ist einfach leer) alles, was edel und vornehm ist, gegen den Krieg auf. So die Erkenntnis „Krieg ist kein Naturereignis“, worauf man bei aller Trivialität der Aussage immerhin aufbauen und nach den Ursachen des gegenwärtigen Krieges gegen die Ukraine fragen könnte. Streeruwitz geht es aber nicht um einen konkreten Krieg, sondern um den Krieg überhaupt. In diesem Krieg überhaupt existiert „Gesellschaftlichkeit als Ergebnis ethischer Grundsätze“ nicht mehr. Es ist somit in Streeruwitz‘ Krieg zwischen Recht und Unrecht nicht mehr zu unterscheiden.
Wie viele Friedliebende gleich ihr durchschaut Streeruwitz all das Gerede über Kriegsgründe und Kriegsziele und glaubt flugs den wahren Zweck des Krieges erkannt zu haben: nämlich den „wirtschaftlichen Nutzen für Eliten, die den Krieg für ihren Profit arbeiten lassen“.
Streeruwitz‘ Friedensbrevier ist im Ton einer Predigt und rhetorisch aufpeitschend angelegt. Einem in den Bannkreis ihrer Rede, in die Andachtsgemeinde ihrer Predigt gezogenen, nicht näher umschriebenen „Wir“ offenbart die Autorin ihr Entsetzen über die Kriegshandlungen. Was aber in diesem Werk fehlt, ist irgendeine Manifestation eines Mitleids oder der Solidarität mit jenen, diesich bei Strafe ihrer sonstigen Versklavung ihrer Haut wehren. Ich habe immer noch die weinende junge Frau vor Augen, die im März 2022 aus ihrem zerschossenen Haus flüchten musste und sagte: „Ich hatte ein Leben, ich hatte eine Wohnung, ich hatte eine Arbeit.“ Sie fuhr sich mit der Hand ins Gesicht. Ich glaube, es war am Bahnhof von Kramatorsk, und sie sollte in einen Bus steigen, mit dem sie evakuiert wurde.
Die Wirklichkeit aber ist bei Streeruwitz immer das Grauenhafte. Dieses bleibt unerkennbar. Von ihm zu wissen, bedeutet, nichts über es sagen zu können. Der Schrecken stellt sich an den Wegrand und bezeugt durch Sprachlosigkeit seine Authentizität. „Krieg lügt immer…“, sagt Streeruwitz – ist also außerhalb jeder Vernunft. Und auch jeder Sachkenntnis.
„Hauptfeinde“ sind bei Streeruwitz der Neoliberalismus und ein überhistorisches Patriarchat. Sie spart nicht mit kräftigen Worten gegen marktkapitalistische Profitmaximierungen und anderes wirtschaftliches Unrecht, das, wie sie zu verstehen gibt, aus dem Schoß des Bösen, nämlich den USA kommt. Ob nicht auch in Moskau Schlimmes ersonnen wurde und praktiziert wird, kommt bei ihr systematisch nicht vor.
Trotz Streeruwitz‘ offenen Irrationalismus hat ihr Kriegsbrevier vielen imponiert. Das stimmt nicht unbedingt optimistisch.
Ich füge an die Schlussstrophe von Claudius‘ Gedicht:
Doch Friede schaffen, Fried' im Land' und Meere:
Das wäre Freude nun!
Ihr Fürsten, ach! wenn's irgend möglich wäre!!
Was könnt Ihr Größers thun?