Dario Calimani, geboren 1946 in Venedig, Anglist, Universitätsprofessor an Universitäten in Triest, Venedig, Cagliari war 2002 bis 2006 Präsident der jüdischen Gemeinde von Venedig und ist dies wieder seit 2021. In seinem Buch bietet er einen guten Einblick in die Probleme und Widersprüche jüdischer Identität nach 1945 in Italien, wobei es weniger um eine Einschätzung und Bewertung in großen Zügen geht, sondern um Episoden, in denen Antisemitismus scheinbar harmlos unvermittelt spürbar wird, oder Menschenmäkelei, die den Juden immer gleich als Juden identifizieren will, erfahren wird. Das Bemerkenswerte ist, und das gilt besonders für das universitäre Milieu, dass keiner derer, die diese Menschenmäkelei betreiben, sich seiner Vorurteilsverhaftetheit gewärtig sein will. Wie nirgend sonst gilt hier der Satz: Dem, der glaubt, kein Antisemit zu sein, kann nicht geholfen werden. Der Jude, der dagegen auftritt, muss sich immerfort selbst als Jude identifizieren, und das auch in Zusammenhängen fachwissenschaftlicher Art, in der dies eigentlich nichts zur Sache tut.
Wichtige Ausführungen widmet Calimani der Pflicht des Erinnerns und der darin enthaltenen großen Schwierigkeit der Vergegenwärtigung des Leids. Doch, so Calimani: „Das Schweigen ist eine Schuld, die vermieden werden muss.“ Mit großer Dankbarkeit spricht Calimani vom Exil seiner Eltern und seines älteren Bruders in der Schweiz, dies obwohl der dauernde Wechsel verschiedener Lager und Arbeitslager das Leben sehr schwierig machte. Bedauerlich ist ein Übersetzungsfehler (S. 32): Die Repubblica Sociale Italiana war natürlich keine „sozialistische Republik“.
Quer durch setzt sich Calimani auch mit der in Italien verbreiteten Unwissenheit über den Faschismus und seine antijüdische Politik in Italien auseinander, respektive mit Formen der „Versöhnung“, die am Ende den Weg frei machen „zur Schönheit des Mythos Faschismus“, zur Vorstellung auch, dass der Faschismus und Mussolini „auch Gutes bewirkt hätten“. Ein Kapitel widmet Calimani einer Tagung 2002 in Turin, bei der der deutsche Historiker Christoph Miething den Juden vorwarf, durch das Bestehen auf die Erinnerung an die Schoa die Deutschen unter einen ständigen Gewissensdruck zu setzen und damit aus Opfern gewissermaßen zu Tätern werden. Diese These ist nicht so abstrus, wie sie auf den ersten Blick wirkt, denn bewusst und unbewusst fühlen sich viele Kinder und Enkelkinder der VerfolgerInnen von den Juden verfolgt, wenn diese die Pflicht des Erinnerns einmahnen. So krass wie Miething formulierte es Rudolf Burger in Österreich 2002 zwar nicht, aber einen Schlussstrich zu ziehen, wurde auch in Italien schon zum Überfluss gefordert.
Konstantin Kaiser
Dario Calimani: Der Jude auf der Kippe. Zwischen Schoa und Antisemitismus der Erinnerung gerecht werden. Aus dem Italienischen von Hans Raimund. Wien: Löcker 2023, 170 S.
Hans und Franziska Raimund geben eine Buchreihe internationaler Lyrik und Prosa im Wiener Löcker-Verlag heraus mit Übertragungen aus dem Englischen und vor allem aus dem Italienischen.
Zuletzt erschien 2023 von Franco Fortini der Band: „Nichts ist sicher, aber schreibe“.