Garri Kasparow (14. Juni 2025 in „The Next Move“)
Übersetzt aus dem Englischen
Die sich an den Status Quo klammern, verstecken sich hinter der Angst davor, was geschehen könnte, statt sich der brutalen Wahrheit dessen zu stellen, was bereits geschehen ist, oder was gerade geschieht.

Geben Sie einen aus für Ben Rhodes*. „Die Welt, wie sie ist“ war in gewisser Weise ein perfekter Titel für die Memoiren des langjährigen außenpolitischen Beraters Obamas, denn die Illusion des Status quo ist alles, was Rhodes und seine Mitstreiter in der Geopolitik jemals ertragen konnten. Doch es war immer nur das: Eine Illusion. Rhodes betrachtete die Welt nie so, wie sie ist; er imaginierte lediglich eine Fassade der Stabilität nach dem Kalten Krieg. Der historische israelische Militäreinsatz gegen den Iran, der gestern begann, stellt einen weiteren Riss in dieser Fassade dar, neben den Angriffen vom 7. Oktober, dem russischen Einmarsch in die Ukraine, der Annexion der Krim und dem Arabischen Frühling.
Nachdem Israel in den vergangenen anderthalb Jahren eine iranische Hilfstruppe (proxy) nach der anderen ausgeschaltet hatte, versetzte es der Islamischen Republik am Freitag einen schweren Schlag. Nicht nur militärisch, sondern auch politisch. Israelische Streitkräfte töteten in Teheran mehrere hochrangige Beamte, darunter den Generalstabschef, den Chef der Islamischen Revolutionsgarde, den Kommandeur der Luft- und Raumfahrtstreitkräfte der Islamischen Republik und einen hochrangigen Berater des Obersten Führers Ali Chamenei. Und das geschah schon in den ersten Stunden. Ich vermute, dass die mit einer Anstellung in der iranischen Regierung verbundenen Berufsrisiken mit jedem Tag weiter zunehmen werden.
Jetzt, da die Islamische Republik stark geschwächt ist, macht uns das alarmistische außenpolitische Kommentatoriat auf die inakzeptablen Risiken aufmerksam und hisst seine altbekannten roten (oder sollte ich sagen weißen?) Fahnen. „Eskalation!“ „Globaler Krieg!“ Und: – ultimativer Feind des Status quo – „Regimewechsel!“ Im Zuge der US-geführten Invasion im Irak zweifle ich nicht daran, dass Rhodes und seinesgleichen gute Absichten hatten, doch wir alle wissen, womit der Weg zur Hölle gepflastert ist.
Unter Präsident Obama haben amerikanische Beamte die schlimmsten Übeltäter in der internationalen Schurkengalerie häufig verniedlicht und darauf bestanden, dass es „keine militärische Lösung“ gebe.
„Keine militärische Lösung“ mag für aufgeklärte Ohren nett klingen. Leider ist es ein bedeutungsloser Slogan. Bezeichnenderweise wiederholen ihn auch russische Beamte ständig. Erst gestern benutzte der russische UN-Botschafter im Sicherheitsrat eine Ben-Rhodes-artige Formulierung und erklärte, im Iran könne „keine militärische Lösung legitim oder tragfähig sein“. Russland hingegen glaubt durchaus an militärische Lösungen für seine Probleme – fragen Sie irgendeinen Ukrainer, Syrer oder Georgier. Doch in Washington sind immer noch zu viele entschlossen, bewaffnete Plünderer mit blumigen Phrasen zu bekämpfen.
Die wichtigste Erkenntnis aus Rhodes‘ Ausführungen zu den wohlverdienten Schlägen, die das iranische Regime in den frühen Morgenstunden des Freitags erlitten hat, lautet: „Dieser Krieg wird vor allem unschuldigen Menschen ohne triftigen Grund schaden.“
Man beachte die Verwendung der Zukunftsform. Die sich an den Status Quo klammern, verstecken sich hinter der Angst davor, was geschehen könnte, statt sich der brutalen Wahrheit dessen zu stellen, was bereits geschehen ist, oder was gerade geschieht. Man könnte dies als Bevorzugung tödlicher Realität gegenüber beängstigender Ungewissheit bezeichnen.
Wenn Sie sich Sorgen um den Tod unschuldiger Menschen machen, wie Rhodes behauptet, denken Sie an die Millionen Iraner, denen Gefängnis, Folter oder Tod drohen, wenn sie es wagen, den gestrengen Geboten der Islamischen Revolution zuwider zu handeln. Oder an die Hunderttausenden Syrer, deren Ermordung der Iran mitverschuldet hat. Oder an die ukrainischen Zivilisten, die in den letzten drei Jahren über 8.000 Kamikazedrohnen iranischer Bauart ausgesetzt waren. Oder an dutzende argentinische Juden, die 1994 in Buenos Aires ohne auch nur die geringste militärische Bedeutung in die Luft gesprengt wurden.
Rhodes hat immer noch seine Schüler in Washington. Der demokratische Senator Chris Murphy verkündete schnell und selbstbewusst, dass Israels Operation im Iran „das Risiko eines regionalen Krieges birgt, der für Amerika wahrscheinlich katastrophal sein wird“. Vielleicht. Aber ein regionaler Krieg war bereits vor dieser Woche im Gange. Der Iran unterstützte die Houthis im Jemen, die Hamas im Gazastreifen, die Hisbollah im Libanon und Russland in der Ukraine. Israel treibt die Dinge lediglich einem entschiedeneren Ende zu. Was aber sollte Senator Murphys Meinung nach gegen das getan werden, was bereits geschieht? Ein Pflaster draufkleben und auf den nächsten Krieg warten?
Auch die Republikaner sind vor diesem Unbehagen nicht gefeit, wenngleich die Gründe unterschiedlich sind. Außenminister Marco Rubios unmittelbare Reaktion auf die israelischen Angriffe im Iran war die Aussage „Das waren nicht wir!“ – und anschließend die Bitte an Teheran, keine US-amerikanischen Truppen und Einrichtungen im Nahen Osten anzugreifen. Murphy betätigt sich aus ideologischer Verblendung. Rubio fehlt es, wie fast allen seinen republikanischen Kollegen, an Rückgrat. Was auch immer der Grund sein mag, Menschen wie Murphy und Rubio fehlt die Vision, und sie werden vom Gang der Ereignisse letztlich beiseite geschoben werden.
Ich werde nicht so tun, als ob die Zukunft für die Iraner einfach wäre. Wer behauptet, 46 Jahre theokratische Diktatur könnten über Nacht durch eine schwedische Sozialdemokratie ersetzt werden, der ist nicht ehrlich.
Während meiner jahrzehntelangen prodemokratischen Tätigkeit in Russland stand ich vor demselben Dilemma. Generationen, die unter dem Sowjetkommunismus aufgewachsen sind, und ein Vierteljahrhundert KGB-Mafiastaat haben die Russische Föderation nicht gerade zu einem fruchtbaren Boden für Freiheit gemacht. Immer wenn ich das Ende von Wladimir Putins Regime fordere, fragt unweigerlich jemand: Was, wenn der Nächste noch schlimmer ist?
Was wäre, wenn? Es gibt keine Möglichkeit, es mit Sicherheit zu wissen. Heute können wir Russen Ihnen dem Zeugnis unserer fünf Sinne folgend und im Namen der Freunde, die geschlagen, eingesperrt und ermordet wurden, sagen, dass der aktuelle Mann bösartig ist und dass er bösartiger ist, als im Jahr zuvor. Wir müssen uns den realen Gefahren stellen, wie sie dadurch entstehen, dass ein mörderischer Gangsterboss frei herumlaufen kann, statt uns über das theoretische Risiko den Kopf zu zerbrechen, dass andernfalls ein noch skrupelloserer Gangsterboss an seine Stelle tritt. Es liegt in unserer Verantwortung, uns den enormen Herausforderungen der Welt, so wie sie ist, zu stellen, damit wir nicht ewig darauf warten müssen, bis wir die Welt so vorfinden, wie sie sein soll.
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Garri Kasparow (geboren 1963 in Baku (als Garik Weinstein), war 15 Jahre lang (1985-2000) Schachweltmeister und ist seit seinem Rückzug vom Schach Aktivist der russischen Opposition. Um Verfolgung zu entgehen, verließ er Russland 1993 mit dem Ziel USA (Wikipedia).
* Benjamin J. „Ben“ Rhodes (geb. 1977) war Stellvertretender Berater für nationale Sicherheit und Strategische Kommunikation des US-Präsidenten Barack Obama. (Wikipedia)