Aus dem Logbuch
Von Konstantin Kaiser
Vor Jahr und Tag wurde die Wiener Philosophin und Autorin Lisz Hirn mit der Pilatus-Frage „Was ist Wahrheit“ konfrontiert.
Sie antwortete, ganz im Sinne Nietzsches und Foucaults:
… dass wir ein moralisches Vorurteil gegenüber der Wahrheit haben, dass wir sie generell überschätzen, und zwar zuungunsten der Lüge, die wir ja als moralisch problematisch einstufen. […] zu Unrecht insofern, als wir uns damit anmaßen, wir könnten die Wahrheit erkennen. Tatsächlich verwenden wir sie aber zur Etablierung von Herrschaftssytemen. […] … für mich geht es um den Begriff der Wahrhaftigkeit.
In Wirklichkeit ist das Verhältnis von Wahrheit und Lüge asymmetrisch. Denn die Lüge, will sie nicht platzen, benötigt den Anschein der Wahrheit. Die Wahrheit hingegen bedarf der Lüge nicht.
Wer Wahrheit spricht, muss also darauf achten, seine Wahrheit nicht zur Komplizin der Lüge werden zu lassen.
Ganz bedenkenlos jedoch nimmt Hirn (mit Foucault) den Paradigmenwechsel vor: Dass Wahrheit verwendet werde, Herrschaftssysteme zu etablieren, und nicht vielmehr die Lüge strapaziert wird, sie zu erhalten. Dass die Wahrheit das ist, was letztlich herauskommt, diese Hoffnung der Entrechteten und Gedemütigten, Gefolterten und Verschleppten, hier ist sie dahin.
Und damit die Sache ganz klar ist, zitiert Lisz Hirn in der Folge den „schönen Satz“ von Friedrich Nietzsche: „Überzeugungen sind gefährlicher als Lügen.“ Nur lautet der Satz bloß bei Hirn so, bei Nietzsche lautet er anders: „Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit, als Lügen.“
Bei Nietzsche ging es immerhin noch um Wahrheit, bei Hirn geht es um Vermeidung von Gefahr. Dafür hat sie ihr eigenes Rezept: „Die Täuschung wurde schon immer als etwas Lebensbewahrendes und Lebensbejahendes gesehen.“
Und das Streben nach Wahrheit, die Wahrhaftigkeit? Würde es nicht gebieten, gegen die Lüge aufzutreten, statt es sich mit ihr bequem zu machen, wie es leider im gegenwärtigen Europa des 21. Jahrhunderts zu geschehen droht?
Die Lüge hat gegenüber der Wahrheit den Nachteil, daß sie nicht aus dem Vollen schöpfen, sich nicht aus der unauskenntlichen Realität immer neu ausstaffieren kann, sondern immerzu beim Alten, „bei der Wahrheit“, bleiben muss. Sie hat beharrlich zu bleiben, konsequent zu sein. Deshalb haben Lügen kurze Beine.
Die Wahrheitsfrage, die der Wiener Philosophin Lisza Hirn 2019 nur ein Naserümpfen kostete, ist seitdem dringlicher geworden.
Der ukrainische Philosoph Konstantin Sigow schreibt 2024:
„Inmitten des Kriegs und aller Manipulationen der Wahrheit, deren Zeugen … wir geworden sind, ist diese Frage äußerst aktuell geworden, angesichts der Propaganda des Kreml, die … den Stalinismus zu rehabilitieren versucht.“
(Zitiert nach: Konstantin Sigow: Für deine und meine Freiheit. Europäische Revolutions- und Kriegserfahrungen im heutigen Kyjiw. Mit einem Vorwort von Karl Schlögel. Hg. von Regula M. Zwahlen. Hannover, Stuttgart: ibidem 2024).
Für Sigow ist (S. 53 f.) die Frage des Pilatus nicht ironisch gemeint im Sinne von „Was ist schon Wahrheit?“ Für ihn ist die Frage des Pilatus ernsthaft gestellt. Sigow sieht auch keine andere Möglichkeit der Interpretation des biblischen Texts.
Es ist absurd anzunehmen, der biblische Jesus Christus wäre als Sohn eines einfachen Mannes nicht fähig gewesen, eine in der Frage des gebildeten Statthalters Pilatus lauernde Ironie zu erkennen und entsprechend zu erwidern. Das unterstellt einen anderen Christus, der außerhalb des ihn überliefernden Textes existiert.
Mit Blaise Pascal vertraut Sigow zuversichtlich dem letzlichen Triumph der Wahrheit – auch wenn er fesstellen muss:
„Das Putin-Regime hält eine Kultur der Amnesie aufrecht und reproduziert das alte Prinzip der damnatio memoriae (Verdammung zum Vergessen).“
Wahrheit ist bei Sigow wieder mit Hoffnung verknüpft.
Beiseite dazu gesprochen:
Das Komische an der Wahrheit ist, man muss immer über etwas hinüber, über einen Abgrund, eine Angst überwinden, einen Fluss. Oder einfach auf eine andere Seite. Deshalb meinen manche auch, die Wahrheit sei transzendent. Wahr ist, dass die Wahrheit im Übergang ist.