13. 6. 46
Ich erzähle heute von meiner Landung in England…
Also am 7. Juli 1940 bin ich mit den Resten der Tschechoslowakischen Auslandsarmee, ein wohlbestallter „Gemeiner“ in einer zerfetzten französischen Uniform und mit acht französischen Franken in der Tasche, halbverhungert und verdurstet in Liverpool gelandet. Wir waren über drei Wochen von Sette[1] in Südfrankreich unterwegs, von U-Booten gejagt bis halbwegs nach Amerika und wiederholt von deutschen Flugzeugen beschossen. Die letzte Woche war kaum was zum Essen am Schiff und die letzten drei Tage war auch das Trinkwasser ausgegangen. Wir kamen in ein Lager mit Zelten, es goss wochenlang ohne aufzuhören und wir hatten nur eine Decke und lagen im Wasser. Wir waren vollkommen demoralisiert nach den Erfahrungen in Frankreich, es war scheußlich.
Die Engländer waren wundervoll. Jedes andere Volk in der Welt hätte damals den Kampf aufgegeben und obwohl nichts da war, keine Ausrüstung, keine Waffen, nichts, so war jeder einzelne Mann und jede Frau vollständig ruhig, diszipliniert und siegessicher und von einer unglaublichen Hilfsbereitschaft und Gastfreundlichkeit. Ich glaube, bei uns hatten sie auch ein bissen ein schlechtes Gewissen wegen München.
Auf der Landstraße blieb jedes einzelne Auto stehen um einen mitzunehmen. In der nächsten Stadt bei unserem Lager (Chester) wurde man auf der Straße angesprochen und in die Familien zum Essen eingeladen. Mit dem englischen Sold, damals waren es sechzehneinhalb Shilling in der Woche, kam ich mir wie ein Krösus vor nach den täglich fünfzig Centimes in der französischen Armee, für die man sich gerade eine Schachtel Zündhölzer kaufen konnte. Ich fühlte mich schon in Frankreich sehr krank und das wurde ärger. Ende August 1940 wurde ich in einem Militärischen Hilfsspital in Chester einer schweren Darmoperation unterzogen, der Chirurg war scheinbar sehr gut, aber sonst war es schrecklich.
Nach sechs Wochen kam ich im Oktober in das Zeltlager zurück, zu schwach um auf den Füßen zu stehen und verbrachte die erste Nacht zähneklappernd in dem eiskalten Zelt, nach dem geheizten Spital – es war nicht schön. Nach drei Wochen wurde ich auf einen dreiwöchigen Krankenurlaub geschickt. Eine Karlsbader Familie, die nach der Besetzung des Sudetenlandes nach England ausgewandert war, hatte mich eingeladen, diesen Urlaub bei ihnen in Barry zu verbringen. Da sie aber kein Schlafzimmer frei hatten, baten sie eine alte Dame in der Nachbarschaft, ob sie nicht einen armen schwachen tschechischen Soldaten bei sich schlafen lassen würde.
Mit dieser Dame, sie ist eine pensionierte Lehrerin, ein fünfundsiebzigjähriges verhutzeltes altes kleines Weiblein, habe ich mich sehr angefreundet. Als sie später im Dezember hörte, dass ich superarbitriert[2] werden solle, hat sie mich eingeladen zu ihr zu kommen und ihr Haus bis zum Ende des Krieges als mein Heim zu betrachten.
Ich fahre noch immer jeden zweiten Sonntag, zu ihr und Miss Kingston ist für mich wie eine zweite Mutter geworden. Ich blieb bei ihr vom Dezember 1940 bis Februar 1941. Da ich sah, dass es für die alte Dame zu viel war und sie immer schrecklich aufgeregt war, weil sie sich nicht genug Lebensmittel verschaffen konnte, nahm ich die Einladung einer Familie in Penarth – zwischen Barry und Cardiff –, die ich inzwischen kennen gelernt hatte, an, bei ihnen gegen Bezahlung der Selbstkosten zu leben. Bei Mr. und Mrs. Hart habe ich zwei verhältnismäßig sehr wohlige Jahre ganz als Familienmitglied verlebt. Auch sie sind wirkliche Freunde geworden, leider sind sie nach Colchester übersiedelt – zirka sieben Stunden Reise von hier, so dass ich jetzt nur selten einmal ein Weekend bei ihnen verbringen kann.
Die Tschechische Regierung in London zahlte mir nach meiner Superarbitrierung vom Dezember 1940 bis August 1945 eine für einen Gemeinen sehr anständige Pension von monatlich dreizehn Pfund[3] und etwas verdiente ich mir noch mit Deutschstunden. Von 1943 bis 1945 war ich noch Lektor der deutschen Sprache an der Universität und bekam für fünf Stunden wöchentlich hundert Pfund im Jahr, so dass es mir nicht so schlecht gegangen ist und ich bescheiden, aber anständig leben konnte.
Seit die Harts fort sind, hatte ich allerdings einige fürchterliche Erfahrungen mit meinen Zimmern und mein Magen ist in einer wahrhaft fürchterlichen Verfassung. Meine jetzige Wohnung ist relativ besser und halbwegs erträglich – aber schmutzig. Das Badezimmer ist so, dass ich mich nicht überwinden kann, mich in die Wanne zu setzen. So bade ich immer, wenn ich Sonntag zu Miss Kingston komme, die auch meine Wäsche waschen lässt und sie flickt.
Im Juni 1945 forderte mich die Tschechische Regierung auf, mich repatriieren zu lassen und teilte mir mit, dass sie mir die Pension nicht mehr zahlen könne. Mit ärztlichen Zeugnissen zog ich es noch bis Ende September hinaus, aber am 2. Oktober sollte so weit sein. Im letzten Augenblick fand ich einen kleinen Posten in einer von tschechischen Flüchtlingen vor dem Krieg gegründeten Fabrik, eine Dreiviertelstunde Autobusfahrt von Cardiff. Im Jänner ist die Fabrik in amerikanische Hände übergegangen, ein Engländer leitet sie. Ich erwartete, dass die Ausländer hinausexpediert würden, aber zu meinem Erstaunen bin ich unter der neuen Leitung sogar Assistant Export Manager geworden – mein Gehalt, oder besser gesagt Lohn ist aber gar nicht managergemäß. Ich begann mit sechs Pfund wöchentlich und habe jetzt neun Pfund. Vor dem Krieg war das ein ganz schöner Verdienst, heute, wo über zwei Pfund an Einkommensteuer abgehen und alles viel teurer geworden ist, ist es sehr bescheiden, aber man muss sehr dankbar sein, dass man es hat. Schließlich kann man damit leben, wenn man sich auch auf die Dauer nichts ersparen kann.
Es ist sehr anstrengend – um halb acht verlasse ich das Haus und komme um dreiviertel sieben abends zurück. Da unsere Büros im Jänner abgebrannt sind, sitze ich im Fabriksraum selbst, wo zirka dreihundert Mädeln den ganzen Tag singen und grölen und ungezählte Motoren und Poliermaschinen laufen. So am Abend ist man einfach fertig.
Mein Gesundheitszustand ist so lila, ohne wirklich krank zu sein bin ich immerzu schrecklich müde und abgekämpft. Vor einigen Wochen habe ich um die englische Staatsbürgerschaft angesucht und die Firma hat mein Gesuch sehr schön befürwortet…
[1] Heute Sète.
[2] Für dienstuntauglich erklärt
[3] Der Provisorischen Regierung der Tschechoslowakei standen zur Finanzierung ihre Armee Kredite der königlich-englischen Regierung zur Verfügung.
[Ende]