8. 7. 46
…also in dem schönen Hotel in Beirut blieb ich gerade eine halbe Stunde und verließ es wie ein begossener Pudel – als ganz gemeiner Soldat. Es erschien nämlich der tschechische Konsul, um die Militärpapiere zu prüfen. Als er die meinen sah, kratzte er sich am Kopf und sagte es tue ihm schrecklich leid, aber nach der neuesten Weisung des tschechischen Nationalrates in Paris könne eine altösterreichische Offizierscharge nur dann anerkannt werden, wenn sie schon vor 1938 zuhause anerkannt worden sei, das heißt: wenn man in der tschechoslowakischen Armee als Offizier schon vor 1938 eine Waffenübung mitgemacht hatte. Da ich ja die Staatsbürgerschaft erst im Juni 1938 bekommen hatte, traf das bei mir nicht zu. Ich könne aber in Frankreich sofort um die Anerkennung meiner Oberleutnantscharge ansuchen und werde sie sicher bekommen. Bis dahin aber müsse ich leider als Mannschaftsperson behandelt werden, und wenn er mich weiter im Hotel wohnen und als Offizier weiterreisen lassen würde, so würde man ihm später die Kosten zum Ersatz vorschreiben.
Also musste ich mein schönes Hotelzimmer verlassen und fand mich eine halbe Stunde später auf einem verfaulten Bündel Stroh mit ungezählten Flöhen und anderen, ärgeren wilden Tieren im Lager der Senegalneger. Die waren übrigens sehr nett und waren jedenfalls die einzigen kriegsbegeisterten Franzosen, denen ich im Verlaufe der ganzen Begebenheiten begegnet bin. Dort saßen wir eine Woche und dampften dann mit einem französischen Militärtransport über Alexandrien nach Marseille ab, hundertvierzig Mann in einer Höhle am Boden des Schiffes, je fünf übereinander. Drei Tage und Nächte hatten wir sehr stürmisches Wetter, und was da von den vier oberen zu mir herunterkam, wird besser nicht beschrieben. Ich war komischerweise einer der wenigen, die nicht seekrank waren.
Von meinen gewesenen Offizierskameraden bis Beirut wurde ich seit meiner Austreibung aus dem Paradies höflich übersehen, mit einer einzigen Ausnahme. Ein Stabskapitän des romantischen Namens Swatopluk Chrastina, der schon in der alten österreichischen Armee gedient hatte, bestand darauf, mich auch weiterhin, wo immer er konnte, als Gleichgestellten zu behandeln. Er benahm sich entzückend zu mir und erwies sich auch oft als ein wahrer Schutzengel.
Am 2.April, genau zwei Monate nachdem ich Prag verlassen hatte, landeten wir in Marseille und kamen in das tschechoslowakische Ausbildungslager in Agde, in der Nähe der alten Universitätsstadt Montpellier.
Dort war es fürchterlich, ich konnte unsere Menage, die ausschließlich von Schustern gekocht worden sein dürfte, nicht vertragen und verkaufte mein letztes Gut, Papas goldene Uhr, um mir am Abend in der Stadt einen Teller Pommes frites und Salat kaufen zu können.
Nach einigen Wochen forderte mich mein Stabskapitän, der unterdessen Kommandant einer der drei motorisierten Kavallerieschwadronen geworden war, zu sich an und ich dampfte nach La Palme, nahe der spanischen Grenze ab, zusammen mit dem jetzigen tschechoslowakischen Handelsminister[1], der Gefreiter war.
Inzwischen hatte ich um die Anerkennung meiner Offizierscharge angesucht und wie ich hörte ging das Gesuch, vom Divisionskommando befürwortet an den Nationalrat in Paris ab – und fiel dort in die Hände der Deutschen. In England hab ich in der Sache dann nichts mehr unternommen. Der Stabskapitän erwartete mich am Bahnhof, führte mich zum Nachtmahl in seine Wohnung und dann in das einzige Kaffeehaus des Ortes, wo er mich den anwesenden Offizieren als seinen persönlichen Freund vorstellte. Und wer erhob sich da als Erster, um mir mit einem höchst indignierten Blick die Hand zu schütteln?
Der Herr Leutnant Morawetz, der mich als Gestapospitzel in Budapest hinausgeworfen hatte! Er war kurz nachher aus Ungarn ausgewiesen worden und hatte sich selber auf die Reise begeben müssen, er war einfach starr vor Staunen, als er mich sah. Ich bekam das Benzinlager mit drei Lastautos und einem Schupfen als mein Königreich, bekam die Bewilligung, privat zu schlafen und mich privat zu verpflegen, und als die Uhr aufgefressen war, bestand Chrastina darauf, für mein Essen zu zahlen.
Die Mannschaft benahm sich unglaublich nett zu mir, keiner der Chauffeure, in deren Autos ich hätte das Benzin pumpen müssen, ließ es mich tun, alle sagten, bleib sitzen Alter, wir machen es uns schon selber. Fast ausnahmslos waren die Leute rührend rücksichtsvoll, bei den Offizieren war es umgekehrt, da waren die meisten halb- aber ein-gebildete Laffen, und wenn mein Stabskapitän nicht gewesen wäre, hätte ich schön ausgeschaut.
Schließlich gingen wir an die Front, kamen gerade in das letzte Debakel. Darüber schreibe ich lieber nicht, es war ein wahres Greuel in jeder Beziehung. Zum Schluss machten wir ein Wettrennen mit der deutschen Armee zur Küste, wo im kleinen Hafen Cette[2] in Südfrankreich, nahe der spanischen Grenze englische Schiffe auf die Reste unserer zwei Divisionen warteten.
Als wir ankamen, weigerten sich die französischen Behörden, uns herauszulassen. Erst als wir ihnen drohten, die Stadt anzuzünden und der englische Zerstörer im Hafen drohte, die Stadt zu beschießen, ließen sie uns heraus – unter der Bedingung, dass wir die Waffen abliefern. Wir schmuggelten aber zirka fünfhundert Gewehre und zwanzig Maschinengewehre, zerlegt in unseren Decken, heraus und ich glaube, als wir in England ankamen, war das ein ganz wesentlicher Bestandteil der damals in England vorhandenen Waffen! Der Zerstörer brachte uns in Gruppen zu einem auf hoher See wartenden großen ägyptischen Passagierdampfer. Bis Gibraltar waren wir sehr gut verpflegt und wurden von zwei Zerstörern bewacht. Dort sollten wir dann auf ein anderes Schiff kommen, aber es war keine Zeit, nicht einmal um Lebensmittel zu fassen und so kam es zu Hunger und Durst auf der weiteren Reise nach Liverpool, wo wir am 7. Juli landeten.
[1] Möglicherweise Hubert Ripka, s. https://de.wikipedia.org/wiki/Hubert_Ripka
[2] Heute Sète. Die Evakuierung war Teil der britischen Operation „Aerial“ (15. bis 25. Juni), bei der in Südfrankreich etwa 12.000 tschechische und polnische Soldaten evakuiert und so vor der deutschen Wehrmacht gerettet wurden. Beteiligt waren in diesem Fall wohl die britischen Zerstörer HMS Keppel und HMS Velox sowie das ägyptische Zivilschiff SS Khedive Ismail, das 1940 für den Kriegseinsatz requiriert worden war.