Dr. Heinrich Polt (1892 – 1960), der den nachfolgenden Text über seine abenteuerliche Reise in den 2. Weltkrieg (und zurück) verfasst hat, war mein Großvater. Wie der Titel schon sagt, hatte er drei Vornamen und – eine nach der anderen – auch die dazu jeweils passende Staatsangehörigkeit. Warum das so war, will ich hier nicht vorwegnehmen. Seine Erzählung stammt aus sechs Briefen, die er 1946 aus Wales an seine Tochter Annemarie (1920-1987), meine Mutter, schrieb. Sie hat die Erzählung aus den Briefen abgeschrieben und ihr gebührt der Verdienst, dass die lesenswerte Geschichte für die Nachwelt erhalten geblieben ist. Der Text war bisher nur Familienangehörigen bekannt und wird hier, in sechs aufeinander folgenden Teilen, erstmals veröffentlicht.
Heinrich Polt (1892 – 1960)
Heinrich Polt stammte aus einer Wiener Beamtenfamilie. Sein Vater Carl Julius Polt war vor dem 1. Weltkrieg Stadthauptmann von Wien (Polizeidirektor). Heinrich Polt war studierter Jurist und hat zu Beginn seines Berufslebens auch als Polizeijurist gearbeitet.
Er nahm als Kavallerieoffizier am 1. Weltkrieg teil und ließ sich nach dem Krieg mit seiner Familie in der ČSR nieder. Während des 2. Weltkrieges verschlug es ihn, wie seine Erzählung zeigen wird, nach Großbritannien. In den fünfziger Jahren kehrte er nach Wien zurück, wo er 1960 einer langwierigen schweren Krankheit erlag.
19. 6. 46
…Nun zum ersten Teil meiner Geschichte:
Knapp vor München, als die Tschechoslowakei mobilisierte, verließ ich Karlsbad und fuhr nach Modletice[1], um mich in Prag freiwillig in die Armee zu melden. Es kam München und die Besetzung des Sudetengebietes und ich organisierte in Prag einen Schutzverband der aus dem Sudetengebiet geflüchteten Industriellen und Kaufleute. Es war ein Bombenerfolg, ich hatte über 300 Mitglieder, es war eine sehr interessante, wenn auch hoffnungslose Arbeit und es ging mir ganz gut. Ich hatte ein möbliertes Zimmer in Prag und verbrachte das Wochenende in Modletice. Am 14. März 1939, als die Abendblätter die Nachricht brachten, dass Präsident Hacha nach Berlin gefahren sei, sagte ich vor dem Schlafengehen scherzend zu meiner Hausfrau: Sie werden sehen, eines schönen Morgens werden wir aufwachen und vor dem Haus wird ein Schupo stehen und den Verkehr regeln.
Um 7 Uhr früh klopfte die Hausfrau an meine Türe und rief: Er steht schon unten!
Ich galoppierte ins Büro und vier Stunden lang verbrannte ich mit meiner Sekretärin alle Akten, Mitgliederlisten usw. und zog mich dann schleunigst nach Modletice zurück. Obzwar ich meinen Mitgliedern vom ersten Tage an immer dringender geraten hatte, koste es was es wolle alles zu liquidieren und ins Ausland zu gehen, konnten sich die Unglücklichen nicht von ihrem Geld trennen und mit Ausnahme von dreien, blieben sie alle hängen. Am Anfang merkte man in Modletice nicht viel, aber bald begann es ungemütlich zu werden und wenn man sehen wollte, sah man was kommen würde. Die meisten der Opfer, leider Gottes, wollten nicht sehen, darunter die Taussigs, die trotz meiner Tobsuchtsanfälle die Kinder nicht hinausschickten, was damals noch gegangen wäre. Um elf Uhr Nachts, eines schönen Abends im Herbst 1939, erschien einer der tschechischen Gendarmen und teilte uns mit, dass er soeben von der Gestapo in Beneschau[2] den Auftrag bekommen habe, mich am nächsten Morgen zum Verhör vorzuführen. Ich solle sofort verschwinden, in der Früh werde er offiziell erscheinen, um mich abzuholen. Ich verduftete nach Prag, der Gendarm meldete, dass ich unbekannten Ortes verreist sei und auf seine Frage, ob er weiter etwas unternehmen solle, wurde ihm geantwortet: Nein, der Teufel soll ihn holen.
So kehrte ich wieder nach Modletice zurück – aber der Vorfall ließ meinen Entschluss reifen, unter allen Umständen die ČSR zu verlassen. Alle Versuche, ein Visum nach England zu bekommen, waren vergeblich, man musste entweder zu Hause eine politische Partei hinter sich haben, oder tausend Pfund auf einer englischen Bank. Eine Engländerin, die ich ein Jahr vorher in Karlsbad kennen gelernt hatte und die sich ziemlich für mich interessiert hatte, starb, gerade als sie mich bei ihren Verwandten in Kanada unterbringen wollte. Also blieb nur das Kriegerhandwerk.
Mit großen Schwierigkeiten nur gelang es mir, mit der Prager Untergrundbewegung in Fühlung zu kommen, die Leute fürchteten sich natürlich vor Gestapospitzeln. Immerhin, eine tschechische Lehrerin brachte schließlich eine Zusammenkunft mit einem angeblichen Führer zu Stande.
Ich erzählte ihm meine Geschichte, wies meine Dokumente vor und fragte, ob man mich in der Tschechischen Armee, die in Frankreich aufgestellt worden war, würde brauchen können. Die Antwort war: Man wird Sie mit größter Freude empfangen! So weit so gut.
Man nahm mir fast den letzten Rest meines Geldes ab, zirka viertausend Kronen, wovon ich die Hälfte in Budapest bei der Tschechischen Abteilung in der französischen Gesandtschaft zurückerhalten sollte, und versprach mir, dass ich dort auch sofort meine erste Oberleutnantsgage erhalten würde. Ich solle mich bereithalten, innerhalb von zwölf Stunden abzureisen, nur mit einer Aktentasche und in städtischer Kleidung, da ich und zwei Prager Medizinstudenten im Auto nach Budapest gebracht werden würden.
Es war Anfang Jänner 1940 und es lag sehr viel Schnee. Die Abreise zog sich hinaus, wurde zweimal abgeblasen, einmal waren wir schon in Brünn und mussten wieder nach Prag zurück, weil die Leute an der Grenze verhaftet worden waren.
Schließlich verließen wir Prag endgültig am 2. Februar mit der Bahn, nachdem man uns Adressen für die mährisch-slowakische Grenze, für Bratislava und die slowakisch-ungarische Grenze gegeben hatte, wo wir Leute fände, die uns über die Grenzen brächten und uns in jeder Weise helfen würden. Auch wurden wir versichert, dass wir in Budapest namentlich angemeldet seien, wurden mit Erkennungsworten und allem möglichen Hokuspokus ausgestattet, um uns in Budapest legitimieren zu können.
So, alles war fein und ich dampfte am 2. Februar mit drei Hemden und ungezählten Schnupftücheln gemeinsam mit meinen zwei Studenten von Prag ab. Als wir nahe der slowakischen Grenze in einem kleinen Städtchen ankamen und unsere Adresse aufsuchten, erklärte der Mann, ein Wirt, er wisse von nichts und wolle nichts mit uns zu tun haben. So saßen wir zwei Tage in dem Ort in einem Hotel, das voll war mit deutschen Offizieren und Gestapoleuten, das schien mir der sicherste Aufenthaltsort zu sein, und ich hatte Recht.
Es gelang uns einen Mann zu finden, der uns über die Grenze zu führen versprach. Es ging nicht glatt, wir mussten uns in dem Dorf direkt an der Grenze wieder drei Tage versteckt halten, weil die Grenze im Alarmzustand war, als wir ankamen. Schließlich aber kamen wir in dem schönen Wahn nach Bratislava, dass nun alles in Butter sei.
Aber Schnecken! Als wir unseren Mann aufsuchten, erklärte er, er könne uns im Augenblick kein Quartier verschaffen (in ein Hotel konnten wir natürlich nicht gehen – keine gültigen Pässe, keine Visa) und so müssten wir uns in Lokalen aufhalten, von denen viele die ganze Nacht offen seien, sollten aber sehr vorsichtig sein, da Polizei und Gestapo in allen Lokalen ununterbrochen Razzien veranstalteten. In zwei Tagen würden wir entweder Quartier erhalten, oder aber an die richtige Adresse an der ungarischen Grenze weitergeschickt werden. Ich muss hinzusetzen, dass sich damals sicher mindestens zwei- bis dreitausend Mann auf der gleichen Reise befanden, in verschiedenen Stadien ihres Weges.
Wir zogen also von einem Nachtlokal ins andere, in dem einen war die Polizei gerade drinnen als wir an die Tür kamen, so dass wir noch rechtzeitig umkehren konnten; es war lieblich. Am nächsten Abend wurden wir in einen nahen Grenzort geschickt, wo ein tschechoslowakischer Kapitän wohnte, der uns nach Ungarn bringen würde. Als wir ankamen, erfuhren wir, dass der Kapitän am Tage zuvor selbst nach Ungarn habe fliehen müssen, weil die Polizei ihm auf die Schliche gekommen war (ich lernte ihn später in Frankreich kennen, aber nicht sehr lieben).
Also zurück nach Bratislava, wo wir diesmal mit vielen anderen Leuten in einer Küche untergebracht wurden und uns wenigstens einmal ausschlafen konnten. Am nächsten Tag schickte man uns an das andere Ende der Slowakei, sechs Stunden Schnellzug. Wir kamen am Abend an und unser Mann, ein Notär (eine Art Bezirksrichter), sagte uns, er traue sich nicht, der Ort und die Grenze seien voll von Hlinkagardisten (eine Art slowakischer SA). Kein Zug zurück nach Bratislava mehr, also ein sehr riskantes Nachtlager im Hotel und in der Früh abermals zurück nach Bratislava.
Der eine Student hatte genug und erklärte, nach Prag zurückzukehren, der andere und ich beschlossen, uns selbständig zu machen und fanden uns selbst einen Arbeiter, der behauptete, die nahe Grenze gut zu kennen und versprach, uns gegen gute Bezahlung durch den Wald nach Ungarn zu bringen.
Um zirka vier Uhr Nachmittag verließen wir in einem mörderischen Schneesturm bei 30 Grad Kälte eine kleine Bahnstation und begannen unsere Wanderung durch die Wälder, mit jedem Tritt bis über die Knie im Schnee versinkend. Städtische Kleidung, die man uns extra angeraten hatte, damit wir nicht auffielen! Glücklicherweise hatten wir wenigstens Galoschen an. Der Mann hatte uns versprochen, dass wir um zehn Uhr abends in dem ersten ungarischen Ort einträfen, wo wir eine Adresse eines Kaffeehauses hatten, von dem aus man uns weiterhelfen würde.
Es war Mitternacht und wir waren noch immer mitten im Wald, als unser Führer plötzlich erklärte, er müsse jetzt umkehren (das Geld hatte er). Er gab uns die Richtung an, versicherte, dass wir in längstens einer Stunde in der ungarischen Stadt eintreffen würden und kehrte um. Wir kamen völlig erschöpft, halb erfroren und mit Eiskrusten geradezu überzogen, um halb drei Uhr früh in der ungarischen Stadt an und fanden das Kaffeehaus natürlich geschlossen. Ein kleines Vendeglö[3] beim Bahnhof war aber offen und wir wankten hinein und bestellten Tee. Einige Zivilisten saßen drin, einige Eisenbahner und ein Polizeimann. Ich fragte einen der Zivilisten, wie ich zum Kaffeehausbesitzer kommen könnte, er sagte wir sollen schnell zahlen und ihm folgen, er würde uns hinführen.
Wir taten so, der Polizeimann folgte uns und direkt vor der Polizeiwachstube hielt er uns an, verlangte unsere Ausweispapiere – und schon waren wir in der Wachstube. Die Leute waren sehr nett, sie sperrten uns nicht ein, gaben uns Speck, Wein und Zigaretten und ließen uns auf Tragbahren im Dienstraum schlafen. Aber um sieben Uhr früh wurden wir von einer Militärpatrouille mit aufgepflanztem Bajonett abgeholt und der Militärbehörde überstellt.
So, ich glaube das ist genug für heute, Fortsetzung folgt, ich fürchte, es wird noch einiges geben, obwohl ich mich bemühe, mich kurz zu fassen und viele interessante Details auslasse.
[1] Modletice liegt etwa 8 Kilometer südöstlich von Prag
[2] Benešov liegt etwa 32 Kilometer südöstlich von Prag