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Mai 2025: Drei Wünsche und eine Frage

70 Jahre Staatsvertrag: “Österreich ist frei!”

Von Sonja Pleßl

Der Festakt im Österreichischen Parlament dauerte fast zwei Stunden. Ansprachen der NationalratspräsidentInnen, Gespräch mit Zeitzeugen (Heinz Fischer und Andreas Khol), Diskussion mit den Clubobleuten der fünf im Nationalrat vertretenen Parteien (allesamt männlich). Im vollbesetzten prächtigen Bundesversammlungssaal hatten sich auch zahlreiche Schülerinnen und Schüler eingefunden, die “junge” Generation Österreichs.

Leider hörte das Festpublikum im Parlament, vor den Fernsehern und digitalen Geräten keine Rede zur bedeutenden Rolle des Exils für die Wiederrichtung eines unabhängigen Österreich.

Dabei hatten sich viele, sehr viele Menschen im Exil dafür eingesetzt, dass Österreich wieder frei wird. Es waren Menschen, die ein nationales Ziel verfolgten, wie auch jene österreichisch-jüdischen Exilierten, die überall auf der Welt für die Wiederherstellung eines freien unabhängigen Österreich warben und vielfach in die alliierten Streitkräfte eintraten, um zur Niederwerfung des Hitlerregimes beizutragen”, wie Konstantin Kaiser in seiner Rede “Über Antinationalismus” am 25. März 2025 in der Diplomatischen Akademie in Wien in Erinnerung rief.

Ich bin einundzwanzig Jahre und einen Tag nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, gegeben zu Wien am 15. Mai 1955, geboren. Mein Geschichte- und Deutschlehrer in der Hauptschule im Waldviertel zeigte uns alle TV-Folgen von Hugo Portisch zur österreichischen Geschichte. Ich lernte also etwas über den Österreichischen Staatsvertrag, aber ich muss zugeben, dass ich erst seit dem russischen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine und dem russischen hybriden Krieg gegen Europa wirklich wissen wollte, was bei nationalen Feierlichkeiten von “offizieller Seite” verkündet wird. Und so fiel mir erst am 16. Mai 2025 die sehr naheliegende Frage an Konstantin Kaiser ein, ob er sich an eine Feierlichkeit zum Staatsvertrag mit einer gebührenden Ehrung für Exilierte erinnern kann? Hat jemand, die/der im Exil war, am 15. Mai jemals im Parlament gesprochen? Kam die Exilforschung am 15. Mai jemals im Parlament zu Wort? “Meines Wissens nicht”, antwortete Konstantin Kaiser. Er kann sich natürlich irren, aber als Koryphäe der österreichischen Exilforschung, der mit seiner ersten Frau und Arbeitsgefährtin Siglinde Bolbecher Mitbegründer des Vereins zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur, der Theodor Kramer Gesellschaft und der Österreichischen Gesellschaft für Exilforschung ist, würde er sich wohl an einen feierlichen Akt zu Ehren des Exils an einem Jahrestag zur Unterzeichnung des Staatsvertrags erinnern.

Warum wird das Exil vergessen?

Das kann, aber muss nicht an unbewusster antisemitischer Praxis liegen. Es kann auch daran liegen, dass die Sozialdemokraten erst nach der Moskauer Deklaration das Ziel eines unabhängigen Österreich anstrebten. Zuvor orientierte man sich auf eine “gesamtdeutsche” und “gesamteuropäische Revolution”.

Leopold Figls Worte “Glaubt an dieses Österreich” in der Weihnachtsansprache 1945 hatten also eine nationale Dimension, die man sich heute kaum mehr vorstellen kann. 

Vielleicht aber, so frage ich mich, hat es auch mit der inzwischen üblichen Verwirrung zu tun, die sowohl am 15. Mai als auch am 26. Oktober herrscht: Die von Menschen des öffentlichen Lebens, die es eigentlich besser wissen müssten, hergestellte engste Verknüpfung von Staatsvertrag mit Neutralität. Alljährlich oder besser gesagt allhalbjährlich wieder entsteht der Eindruck, die Neutralität stünde im Staatsvertrag und wir feierten am 15. Mai auch das Neutralitätsgesetz.

Im Staatsvertrag findet sich kein Wort über Neutralität. Daher obliegt Österreich allein die Interpretation seines Neutralitätsgesetzes und es ist Österreich allein, das über die Beibehaltung, Abänderung oder Abschaffung des Neutralitätsgesetzes entscheidet. Die Abschaffung der Neutralität wäre mit Zweidrittelmehrheit im Parlament möglich, Moskau,  das Weiße Haus, London oder Paris bräuchte Österreich nicht konsultieren.

Vielleicht liegt es aber nicht nur an Verwirrung und an einer komplizierten Geschichte, sondern auch daran, dass man nur allzu gerne vergisst, welch “enormes Glück” Österreich hatte. Zu diesem Schluss kamen die beiden Historiker Wolfgang Mueller und Gerald Stourzh, die in jahrelanger Archivarbeit die Hintergründe der Vertragsunterzeichnung erforschten und u.a. österreichische, deutsche, englische, französische, sowjetische und US-amerikanische Archivbestände, Publikationen und Interviews auswerteten. Österreichs Staatsvertrag hat mit harten Verhandlungen zu tun, mit der Unterstützung Österreichs durch die Westmächte, dem bevorstehenden NATO-Beitritt Westdeutschlands und einem neuen Kurs der Sowjetunion – und mit einem Window of Opportunity: Stalin stellte sich als Sterblicher heraus.

Einundeinhalb Jahre nach der Unterzeichnung des Staatsvertrages versuchten die UngarInnen, die Sowjetherrschaft abzuschütteln. Sie wurden von der Sowjetarmee brutal niedergeschlagen.

Danach wäre es wohl unwahrscheinlich gewesen, über längere oder sogar sehr lange Zeit, die Worte “Österreich ist frei!” zu hören.

Es war nicht selbstverständlich, dass Österreich nicht geteilt wurde. Die damalige kommunistische Partei hatte die Teilung Österreichs angedacht, so der Historiker Wolfgang Mueller, Professor für Russische Geschichte am Institut für Osteuropäische Geschichte, zu dessen Forschungen seit 2000 die sowjetische Österreich-Planung und -Politik nach 1945 gehören. Er publizierte Standardwerke auf Basis sowjetischer Archivdokumente, Politbürobeschlüsse und der Korrespondenz Stalins mit der KPÖ.

Eine Teilung Österreichs hätte wohl dazu geführt, dass sich das Waldviertel, wo ich geboren wurde, nicht vor, sondern hinter dem Eisernen Vorhang befunden hätte. Die sowjetische Zone umfasste Niederösterreich und das Burgenland, Teile Oberösterreichs, den sowjetischen Sektor in Wien, zu dem der Bezirk gehörte, in dem ich heute lebe und eine Tochter großziehe.

An einer Teilung Österreichs war allerdings keine der vier Siegermächte interessiert, wie Prof. Mueller im Interview mit Krone TV vom 15.5.2025 ausführte. Auf diesen vier Minuten dauernden Bericht sei hingewiesen, da er in einer Klarheit und Kürze den Staatsvertrag und die Frage der Neutralität darlegt, wie man es sich bei einer offiziellen Feierlichkeit zum 15. Mai und auch im Schulunterricht wünschen würde.

Ich wünsche mir, dass die Menschen, die sich im Exil für Österreichs Freiheit einsetzten, bei kommenden 15. Mai-Feierlichkeiten in einer Art und Weise gewürdigt werden, dass alle in Österreich Lebenden davon Kenntnis erlangen.

Ich wünsche mir aber auch, dass die kommenden 15. Mai-Feierlichkeiten Anlass dazu bieten, die Frage des Widerstands aufzuwerfen.

Es hätte nicht so kommen müssen, wie es 1938 gekommen ist. Es gab einen militärischen Plan zur Verteidigung Österreichs gegen einen Einmarsch deutscher Soldaten. Der Politikwissenschaftler Dr. Martin Malek hat in seinem Buch “Das Bundesheer steht bereit” nachgezeichnet, was der Chef des österreichischen Generalstabes, ein gebürtiger Galizier, an militärischen Möglichkeiten gesehen hat. Österreich hat sich durch die Entscheidung zu kapitulieren, nichts erspart, hat aber viele Menschen, die nach Österreich geflüchtet waren oder auf den Listen der Gestapo standen, buchstäblich über Nacht preisgegeben.

Gedenkstein am Wiener Mexikoplatz (Quelle: Wikipedia)
Gedenkstein am Wiener Mexikoplatz (Quelle: Wikipedia)

Inwieweit 1938 Hilfe vom Ausland gekommen wäre, hätte Österreich militärischen Widerstand geleistet, lässt sich schwer sagen. Aber es hätte wohl dazu geführt, dass Mexiko nicht das einzige Land geblieben wäre, “das vor dem Völkerbund offiziellen Protest gegen den gewaltsamen Anschluss Österrreichs an das nationalsozialistische Deutsche Reich einlegte” – so steht es auf dem Denkmal am Mexikoplatz, der Platz, in dessen Nähe ich wohne, der “zum Gedenken an diesen Akt” von der Stadt Wien den Namen Mexiko-Platz erhalten hat und wo sich jedes Jahr im Frühjahr Verliebte und Hochzeitspaare zur Kirschblüte in der Allee vor der Kirche treffen.

Immerhin fielen beim Festakt 70 Jahre Staatsvertrag die Worte “Wer in der Demokratie einschläft, wacht in der Diktatur auf”, gesprochen von der Präsidentin des Bundesrates Andrea Eder-Gitschthaler. Dieses Wort eines unbekannten Verfassers ist auch der Leitsatz von Unlimited Democracy – Verein zur Förderung der Demokratisierung, der den Freiheitskampf der Ukraine gegen die russische faschistische Großmacht als zentrale Frage unserer Zeit sieht.

Dankbar bin ich auch für die Worte von Werner Kogler, Clubobmann der Grünen, der in der Diskussion mit den Clubobleuten die Gefahr ansprach, der Österreich heute ausgesetzt ist und der es widerstehen muss: “Die Demokratie wird von innen angegriffen”, “nämlich von Russland.”

Selbst während des Festaktes zum Staatsvertrag ließ freilich der Clubobmann der FPÖ die Gelegenheit nicht aus, “Souveränität” im Sinne Russlands zu interpretieren – gegen die EU, den Euro und die WHO.  

Und so ist mein dritter Wunsch für die kommenden 15. Mai-Feierlichkeiten: Dass jemand erklären möge, wie der Text der Österreichischen Bundeshymne entstand, wer ihn verfasste und was diese Frau erleben musste.

“Von einer verfolgten Dichterin stammt der heute noch gültige Text der Bundeshymne. Sie ist geistig, könnte man sagen, in Paula von Preradović’ Gestapohaft entstanden.”

Es war Konstantin Kaiser in seiner Rede über Antinationalismus, der an die Verfasserin der österreichischen Bundeshymne erinnerte.

Zum 15. Mai 2025 stellt sich die Frage: Wie halten wir es heute mit Österreichs Freiheit und Unabhängigkeit?

Von der Antwort auf diese zentrale Frage hängen die weiteren Fragen und Antworten ab:

Sind wir bündnisfähig in der Verteidigung dessen, was Österreich mit dem Staatsvertrag wiedererlangte?

Quellen:

Festakt zu 70 Jahre Staatsvertrag in Österreichischen Parlament, “Guten Morgen Österreich vom 15.05.2025, Sondersendung im ORF 2 am Nachmittag und frühen Abend des 25.5.2025

“Die unbekannten Wegbereiter”. Mona Harfmann, ORF topos, 14.05.2025, zu den Forschungsergebnissen zum Staatsvertrag der Historiker Wolfgang Mueller und Gerald Stourzh: https://topos.orf.at/entstehung-staatsvertrag100

https://medienportal.univie.ac.at/uniview/wissenschaft-gesellschaft/detailansicht/artikel/der-staatsvertrag-harte-arbeit-und-viel-glueck

Warum die Neutralität Österreich dennoch nicht schützt. Krone TV, 15.05.2025: https://www.youtube.com/watch?v=gtPrMPr_JJc

Konstantin Kaiser: Über Antinationalismus: https://konstantinkaiser.at/2025/03/28/on-anti-nationalism/#%C3%9Cber_Antinationalismus

Gespräch mit Konstantin Kaiser vom 15. und 16. Mai 2025, Wien.

Zum Denkmal am Mexikoplatz: https://de.wikipedia.org/wiki/Mexikoplatz

Unlimited Democracy – Verein zur Förderung der Demokratisierung: https://www.facebook.com/unlimited.democracy

Published inAktuellesZwischenwelt International
Konstantin Kaisers Blog
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