Verstorben nach langem schweren Leiden am 17. Jänner 2025.
Martin Pollack wusste wie kaum ein anderer um die Gefährlichkeit der Lüge im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit und schrieb dagegen an. Er wusste, dass mit Empört- und Entsetztsein nichts getan war gegen die Infamie der Lüge. Er wusste, dass unausgetragener Konflikt und Halbverstandenes und Ungelöstes Düngemittel der Lüge sein können.
Das Programm von Memorial war auch seines. Aufzufinden waren in mühsamer Recherche die Massengräber der Ermordeten, die sich oft ausgerechnet unter Stellen verbargen, wo die Pflanzen saftig sprossen und die Saaten reichlich aufgingen. Auch im übertragenen Sinn mochte das vielfach gelten.
Aufzulösen waren auch die Rätsel der eigenen Herkunft, nicht aber, um damit in eine frömmelnde Gemeinschaft von Schuldbewussten einzutreten, sondern um Klarheit über eigene Vorbedingtheit zu gewinnen, der man ja selbst ein ganz besonderer Fall, aber kein Einzelfall war und ist. Daher ging es auch um Gestaltung des Typischen, nicht durch Abstraktion und Verallgemeinerung, sondern durch präzise Nachzeichnung des Geschehenen. Martin Pollack hasste es, wenn sich Menschen hinter ihrer Unwissenheit verschanzten.
Martin gehörte als investigativer Journalist, Übersetzer, Erzähler, Dokumentarist nie zu jenen AutorInnen, die hinter einer Mauer von Unwissen ihre Befindlichkeiten pflegen. Er ging konsequent zur Nachschau hinter die Mauer, ob nun im Fall des angeblichen „Vatermörders“ Philipp Halsmann oder in dem seines leiblichen Vaters, des SS-Majors Gerhard Bast.
Martin schrieb ein geschmeidiges, klares Deutsch, das in aller Nüchternheit prächtig war. Seine Übersetzungen von Ryszard Kapuściński sind dafür nur ein Beispiel. Als Literat, politischer Mensch und als Kurator der Leipziger Buchmesse öffnete er neue Zugänge zur polnischen, ukrainischen und belarusischen Literatur.
Begonnen hat Martin Pollack in den 1970er-Jahren als Redakteur der eurokommunistischen Monatsschrift „Wiener Tagebuch“, in einer Atmosphäre, in der man ein zukünftiges Wiedererstehen eines „Kommunismus mit menschlichem Antlitz“ noch nicht ganz ausschloss, die trügerische Hoffnung auf Konvergenz der Systeme nicht aufgegeben hatte. Als Korrespondent in Polen entwickelte er sich jedoch angesichts der machtvollen und mutigen Solidarność-Bewegung zu einem hellsichtigen Beobachter des politischen und kulturellen Lebens auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs.
Martin erkannte früh die Gefahr, die von dem autokratischen Regime Russlands und seinen Bestrebungen ausging, seine Hegemonie in Osteuropa wieder herzustellen und die demokratische Willensbildung in diesen Ländern zu zerstören und zu unterdrücken, wie es zuletzt in Moldavien und Rumänien versucht worden ist und in Georgien dramatisch im Gange ist. Die traditionelle linke Verachtung für die nationalen Fragen „kleiner Länder“ war ihm fremd. Seine Parteinahme für die Ukraine im Befreiungskrieg gegen den genozidalen Vernichtungskrieg Russlands war nicht humanitär, sondern politisch, anerkannte den Willen des ukrainischen Volkes. Das drückte sich in dem von Martin Pollack verfassten Appell von Theodor Kramer-PreisträgerInnen aus, den Sonja Pleßl initiiert hatte.
Appell von Martin Pollack
Die Ukraine und ihre Menschen sind uns ein Vorbild
Zwei Jahre Krieg gegen die Ukraine. Nur gemeinsam können wir dem zerstörerischen Angriffskrieg Russlands Einhalt gebieten.
Seit geraumer Zeit sind unsere Blicke auf die Ukraine gerichtet, ein autonomes, freies Land in Europa, das sich gegen den durch nichts provozierten Überfall des russischen Aggressors zur Wehr setzt. Eine Auseinandersetzung, die nicht nur die Ukraine betrifft, mit der uns historisch und kulturell so vieles verbindet, sondern das gesamte freie Europa.
Die Ukraine ist ein Bollwerk gegen den Feldzug der Barbarei und der menschenverachtenden Willkür, mit denen Putin das freie Europa in die Knie zwingen möchte. Das dürfen wir nicht zulassen, sondern müssen uns mit allen Kräften zur Wehr setzen. Das bedeutet, die Ukraine in ihrem Kampf, der auch der unsere ist, bedingungslos zu unterstützen. Wer meint, dieser existentielle Konflikt gehe ihn nichts an, schlägt sich, ob willentlich oder nicht, auf die Seite der menschenverachtenden Diktatur und Unfreiheit.
Es ist nicht die Ukraine, die heute ihre Zugehörigkeit zum freien Europa unter Beweis stellen muss, sondern umgekehrt: Wir müssen zeigen, dass wir ein Europa verdienen, für das unsere ukrainischen Nachbarn und Freunde unsägliche Opfer und Leiden erbringen.
Nur gemeinsam, im gemeinsamen Kampf können wir dem zerstörerischen Angriffskrieg Russlands Einhalt gebieten. Die Ukraine und ihre Menschen sind uns darin ein großes Vorbild.
Dafür stehen wir tief in ihrer Schuld.
Martin Pollacks Appell von Theodor Kramer PreisträgerInnen für Schreiben im Widerstand und im Exil wurde unterzeichnet von
Georg Stefan Troller
Renate Welsh
Nahid Bagheri-Goldschmied
Gerhard Oberschlick
Meral Şimşek
Gerhard Scheit
Tanja Maljartschuk
Herbert Kuhner
Stefan Horvath
Lore Segal
Explizit gebeten, ihre Unterschrift unter den Appell zu setzen, auch wenn sie keine TKG-PreisträgerInnen sind, haben: Irmgard Kuhner, Primavera Driessen Gruber, Primus-Heinz Kucher.
Richard Schuberth, als TKG-Preisträger angefragt, ließ ein ausschweifendes ablehnendes Schreiben zirkulieren, in dem er den Appell des „Manichäismus“, „Kulturalismus“ und einer falschen Heldenverehrung zieh, sich also ungebetene Sorgen machte um die geistigen Folgen „des Krieges“. Nicht aber sorgte er sich um die russischen Lügen-Narrative, denen Schuberth leider prompt aufgesessen ist. Schuberths Brief fand aber insgeheime und zum Teil offene Zustimmung unter Mitgliedern des gegenwärtigen Vorstands der Theodor Kramer Gesellschaft.
Martin Pollacks Appell von Theodor Kramer-PreisträgerInnen ist am 23. Februar 2024 in der „Presse“ in deutscher Sprache und in der ukrainischen Übersetzung von Ganna Gnedkova veröffentlicht worden. Nicht aber in „Zwischenwelt“ (geplant für die Doppelnummer 1-2/2024), deren Herausgabe Konstantin Kaiser in Folge der Klagsdrohung des Aktionsradius Wien inzwischen entrissen worden war.
Nur einen Teilaspekt von Martin Pollacks Arbeit und Kunst trifft die Begründung zur Verleihung des Theodor Kramer-Preises 2019 an Martin Pollack, verfasst von Konstantin Kaiser:
Mit der Verleihung des Theodor Kramer Preises würdigen wir Ihr großes, kaum überschaubares Werk als Übersetzer und Publizist, vor allem aber Ihre mit größter Anschaulichkeit verfassten Auseinandersetzungen mit dem Antisemitismus in Österreich und in der eigenen Familie, mit den Sehnsüchten und Niederlagen galizischer Bauern, mit dem von den Gewaltausbrüchen des 20. Jahrhunderts durchpflügten und zusammengeklumpten Europa. Sie verstehen es, bei allem Wahnsinn des Geschehenen der Wahrheit mit Vernunft, Schritt für Schritt nachzuspüren, ohne den Ausgang vorweg zu nehmen. Sie haben uns gezeigt, wie die notwendige Enttabuisierung der Geschichten von TäterInnen vor sich gehen und uns die Fenster zu den uns so nahen slawischen Sprachen aufgestoßen. Dafür danken wir Ihnen.
Da ist hinzuzufügen: Der Schriftsteller Martin Pollack war ein profunder Kenner der Geschichte Ost- und Mitteleuropas. Er erkannte als einer der wenigen im „Westen“ bereits 2014 in seinem Essay „Abducken und Kopfeinziehen. Über die Macht der Lügen“: „Da hört man schon die Rechtfertigung für einen Feldzug heraus, mit dem sich Putin wieder holen möchte, was das große Russland beim Zerfall der Sowjetunion verloren hat.“ Und er fragte: „Werden die westlichen Intellektuellen auch dann weiterhin Verständnis äußern und davor warnen, Putin in die Ecke zu treiben? […]
Um eine weitere Eskalation zu verhindern, muss Europa, muss die Welt Putin auf der Stelle energisch entgegentreten, um seine Ambitionen zu stoppen. Sonst droht ein böses Erwachen.“ (Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Hg.: Juri Andruchowytsch. Berlin: 2014, S. 173-182)
Gegen den Putsch in der Theodor Kramer Gesellschaft protestierte Martin Pollack und schrieb an alle Mitglieder des gegenwärtigen Vorstands, die in das Komplott gegen Konstantin Kaiser und Sonja Pleßl und die Distanzierung von der österreichisch-ukrainischen Autorin Oksana Stavrou verwickelt waren.
Liebe Freundinnen und Freunde,
eingangs möchte ich sagen, dass ich kein Mitglied der Theodor Kramer Gesellschaft bin – ich bin nirgends Mitglied, auch bei keiner Autorenvereinigung, und wenn ich mir die jüngste Korrespondenz um die TKG anschaue, weiß ich auch, warum.
Seit geraumer Zeit erhalte ich Nachrichten, meist von Konstantin selber, in denen es offenbar um einen Machtkampf innerhalb der TKG geht. Was die Gründe sind, weshalb Konstantin und seine Frau „abgesetzt“ werden sollen oder vielleicht bereits wurden, weiß ich nicht. Das hat sich mir bisher nicht erschlossen. Vielleicht ist das ja meine Schuld?
Aber eines möchte ich als interessierter Außenstehender schon sagen: Ich finde es bedenklich und traurig, dass zwei Menschen, die man ohne Übertreibung die „Seele“ der TKG nennen kann, ohne ersichtlichen Grund ausgebootet werden sollen. Was wird ihnen vorgeworfen? Was haben sie „verbrochen“? Mindestens ebenso bedenklich erscheint mir, dass eine wunderbare und wichtige Zeitschrift wie die „Zwischenwelt“, die Konstantin seit Jahren mustergültig gestaltet und herausgibt, diesen undurchsichtigen Machtspielchen, anders kann man das wohl nicht nennen, geopfert werden soll. Denn dass die Zeitschrift durch diese Ränke und Streitereien Schaden leidet, ist wohl unvermeidlich. Ein unersetzlicher Verlust. Hat da jemand darüber nachgedacht, oder ist das ein „Kollateralschaden“, den man achselzuckend in Kauf nimmt?
Und das in Zeiten wie diesen, wo die Rechten, die radikalen, extremen Rechten allerorts, leider auch in Österreich, auf dem Vormarsch sind!
Das erscheint mir, mit Verlaub, dumm und in höchstem Maße unverantwortlich. Meine Solidarität gilt Konstantin und seiner Frau.
Beste Grüße
Martin Pollack
4. Juni 2024
Ob Martin Pollack darauf eine Antwort bekommen hat, von denen, die schweigen, wenn sie nicht lügen?
Lieber Martin, Du fehlst.
Du fehlst vielen.
Einer der ersten, die am 17. Jänner 2025 über Martin Pollack öffentlich geschrieben hat, war der ukrainische Schriftsteller Andrij Kurkov.
Im Mai 2025 erscheint Martin Pollacks letztes Buch „Zeiten der Scham. Reportagen und Essays“, hrausgegeben und mit einem Nachwort von Gerhard Zeillinger (Residenz Verlag).
Wir suchen weiter Antworten auf die Fragen, die Martin Pollack Zeit seines Lebens gestellt hat.
Konstantin Kaiser und Redaktion Zwischenwelt International
Verein zur Förderung und Erforschung der antifaschistischen Literatur