Irina Scherbakowa in Wien
27.11.2024
Auf Einladung des Wiener Wiesenthal Instituts für Holocaust-Studien berichtete die Mitbegründerin der Gesellschaft Memorial, die sich der Erinnerung an die Verbrechen des Sowjetsystems widmet und mittlerweile in der Russischen Föderation als „extremistisch“ und „ausländische Agentin““ gebrandmarkt ist, über die letzte Ausstellung, die Memorial in Moskau 2022 noch veranstalten konnte.
Diese Ausstellung zum Thema „Frauen im Gulag“ musste im Februar 2022 geschlossen werden, das Haus von Memorial in Moskau wurde beschlagnahmt und Irina Scherbakowa lebt heute gleich Oleg Orlow, dem Mitbegründer von Memorial, im deutschen Exil.
Als große Schwierigkeit stellte Scherbakowa dar, etwas von der Repression und dem Alltag in den Lagern überhaupt sichtbar zu machen. Es existieren kaum Fotos, denn die Gefangenen besaßen in der Periode der Gulags keine Fotoapparate, und wenn sie welche besessen hätten, wären sie ihnen unverzüglich weggenommen worden. So bleiben wenige offizielle Filme und gestellte Aufnahmen, so ein Propagandafilm über die Arbeiten am Weißmeerkanal, die zahllose Opfer forderten.
Was man sammeln konnte und kann, waren und sind Texte, nämlich Erinnerungen, Bezeugungen, Briefe, Kassiber, die aus den Lagern geschmuggelt wurden und zusammen mit anderen Gegenständen aus den Lagern privat von den Familien oder den überlebenden Frauen versteckt aufbewahrt wurden. Die Männer selbst kamen von den Lagern meist nicht zurück oder starben oft bald nach der Entlassung.
Bemerkenswert war das Gewicht, das Scherbakowa auf die schriftlichen Zeugnisse legte, was in der österreichischen Gedenkkultur nicht selbstverständlich ist, wo man diese, gewinnt man manchmal den Eindruck, am liebsten durch pädagogisch wertvolle Computerspiele ersetzt sehen möchte. Die kulturellen Anstrengungen der Gefangenen und Verbannten des Gulag waren in uns vielleicht befremdender Weise oft mit dem Wunsch verbunden, nicht den Glauben an die kommunistische Partei und die Zukunft des Sowjetsystem zu verlieren.
Eine interessante Passage in Scherbakowas Vortrag bezog sich auf die Beziehung der nach den Verhaftungen zurückgebliebenen Kinder zu ihren Vätern im Gulag. Wenn auch die Mütter verhaftet wurden, so unter anderem unter der Anschuldigung, ihre bereits zuvor verhafteten Männer nicht denunziert zu haben, kamen die Kinder in gefürchtete Kinderheime und zu Verwandten, wenn sie zum Beispiel das Glück hatten, noch Großeltern zu besitzen.
Auch nach dem Ende des Stalin’schen Terrors herrschte Schweigen in den Familien; auch über die „Schuldfrage“ konnten sich die Kinder mit niemandem verständigen: Waren denn die Eltern wirklich „Feinde“ des Sowjetsystems gewesen?
Trauer kam erst nach vielen Jahren auf.
Die Frauen jedenfalls haben die Erinnerungen aufbewahrt. Auch in der Tätigkeit von Memorial war dieses langsame Durchdringen zur Erinnerung zu beobachten, indem sich im Laufe der Tätigkeit nach zögerlichem Beginn immer mehr Kanäle der Erinnerung bei den Menschen öffneten, immer mehr authentische Texte aus den Gulags gesammelt werden konnten, sodass Scherbakowa sich vorstellen kann, all diese Texte und Textfragmente zu einem riesigen Epos des Gulag zu verbinden. Es bräuchte aber ein ganzes Museum, um all das zeigen zu können, was von den Frauen kam. Da gefangene Frauen vielfach in der Produktion von Textilien eingesetzt wurden, konnte Scherbakowa beispielhaft einen auf ein Unterhemd geschriebenen Brief zeigen; gefangene Frauen fertigten auch Sachen für ihre Kinder, von deren Schicksal sie nichts wussten, verfertigten Stickereien in Taschentuchgröße, und hielten in der Produktion dieser Dinge die überlebenswichtige Hoffnung aufrecht. Die Frauen waren dabei oft sehr erfinderisch, Dinge mit den bescheidensten Mitteln zusammenzubasteln. So entstand auch ein Kochbuch mit Rezepten aus den Küchen der verschiedensten Völker der Sowjetunion, verfasst nicht um zu kochen, sondern für den Überlebenswillen.
Scherbakowa ging auf die engen Beziehungen von Frauen in der Gefangenschaft, etwa auch auf lesbische Freundschaften ein, die auch nach der Freilassung weitergeführt wurden. Allerdings war Letzteres in den Erinnerungen lange tabuisiert.
Die Bedeutung, die Memorial der schriftlichen und literarischen Überlieferung beimisst, dokumentierte sich in der Ausstellung in Moskau darin, dass KunsthochschülerInnen Gulag-Texte in die Wände der Ausstellungsräume ritzten und das geschriebene Wort somit immer gegenwärtig blieb.
Scherbakowa sagte: „Wir wollten eigentlich einen Ort der Erinnerung schaffen.“ Nun aber ist das Memorial-Haus weggenommen. Scherbakowa und die MitarbeiterInnen von Memorial stellten Kopien von all den authentischen Gegenständen her, wobei ihnen ein Enkelsohn des Dichters Boris Pasternak, ein Bildhauer, mit besonderem Geschick half, Kopien der Gegenstände herzustellen, die die Frauen überliefert hatten her. Vieles konnte man aus Russland herausbringen und zu 80 Prozent sind die Memorial-Sammlungen inzwischen digitalisiert.
„Wir haben“, sagte Scherbakowa, „vielleicht die größte Sammlung der Welt an Lagerzeichnungen. Aber sie erzählen doch zu wenig.“ Es gibt gute Porträtzeichnungen und Zeichnungen, die mit Schweineblut gemacht worden sind. Über die Frauen, die nach den Verhaftungen in prekärer Freiheit im Sowjetsystem allein zurückblieben, wurde bisher nur wenig geschrieben. Kamen sie nach Gefängnisjahren frei, erkannten sie sich im Spiegelbild nicht wieder.
Es sind inzwischen einige Exilorganisationen von Memorial entstanden, in Paris, Vilnius, Prag, Berlin. Großer finanzieller Bedarf besteht für die Fortsetzung der Digitalisierung.
Memorial setzt seine Bildungsarbeit fort und will in der Situation des Exils die Kinder der in den letzten Jahren aus der Russischen Föderation Emigrierten erreichen. Die Sammlung von Texten und Dokumenten geht weiter, auch in Israel, hinzukommen neue Materialien aus der gegenwärtigen Repression unter dem Putin-Regime.
Seinen Anteil am Friedens-Nobelpreis 2022 spendete Memorial für politische Häftlinge in Russland und ausgebombte UkrainerInnen.
Wir hoffen, Memorial in Zukunft unterstützen zu können in der Aufklärung über die Verbrechen des Sowjetkommunismus und im Kampf gegen Desinformation.
Redaktion Zwischenwelt im Exil, 28.11.2024