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Celan und die Anderen. Ein neues Buch zur „Todesfuge“

Rezension von Petro Rychlo

Norbert Gutenberg (Hg.): Celan und die Anderen. Eine Anthologie zur Todesfuge. Berlin: Edition Noack & Block 2023. – 226 S.

Kaum ein anderes deutsches Gedicht des 20. Jahrhunderts ist so berühmt geworden, wie Paul Celans „Todesfuge“. Als das „ultimative“ Shoah-Gedicht in deutscher Sprache ist es seit langem nicht nur in Schullesebücher, sondern auch in das Bewusstsein des deutschen und – mit Übersetzungen in etwa 40 Fremdsprachen – auch des internationalen Leserpublikums eingegangen. Seine zentralen Leitmotive und Bilderstrukturen sind zu Zitaten, Sentenzen und geflügelten Worten geworden: „schwarze Milch der Frühe“, „das Grab in den Lüften“, „der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, „dein goldenes Haar Magarete“, „dein aschenes Haar Sulamith“. 2020 erschien unter dem Titel Todesfuge. Biographie eines Gedichts1 ein Buch von Thomas Sparr – eine minuziöse monographische Erkundung eines einzigen Gedichts, in der alle Begebenheiten seiner Entstehung, Rezeption und nachfolgender Übersetzungen in andere Sprachen präzise und höchst spannend verfolgt werden. Diese Tatsache ist an sich bereits  bemerkenswert – man suche in der zeitgenössischen Literaturwissenschaft Analoges zu der Arbeit, in der auf rund 300 Seiten ein einziges Gedicht analysiert und besprochen wird! Die Todesfuge lässt aber die Celan-Forscher nicht los – und schon nach drei Jahren erscheint ein anderes Buch, das dieses einzige Gedicht zu seinem Thema hat: der von Norbert Gutenberg herausgegebener Sammelband Celan und die Anderen. Eine Anthologie zur Todesfuge.2

     Bereits in der Monographie von Thomas Sparr wurden kontextuelle Bezüge des Celanschen Gedichts hervorgehoben – vor allem biographische Stationen des Dichters, die von der Entstehungsgeschichte der Todesfuge untrennbar sind, frühe Publikationen und öffentliche Lesungen des Gedichts, Übersetzungen und Veröffentlichungen in verschiedenen Sprachen und Ländern, aber auch seine Aneignung durch etliche Kunstarten, so durch Malerei, Musik, Film etc. beschrieben. Norbert Gutenberg, der viele Jahre als Professor für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken wirkte, also ein Fachmann für Rezitationskunst ist, geht nun weiter und widmet sich der Ergründung des künstlerischen und literarischen Kontextes der Todesfuge hauptsächlich als eines polykulturellen und mehrsprachlichen Phänomens. Das Schlüsselwort seiner Erörterungen des Celanschen Gedichts ist der synthetische Geflecht-Begriff. Gemeint ist das Metaphern- und Sprachengeflecht, das das berühmte Celansche Gedicht begleitet. Die Todesfuge ist bekanntlich „ein literaturbesessenes Gedicht, das eine durchgängige Zitatstruktur aufweist“3. Dabei muss man betonen, dass das „Zitat“ hier nicht nur als direkter, in Anführungszeichen eingeschlossener Text verstanden wird, dem dann in der Regel eine Fußnote folgt, die seine eigentliche Quelle nennt, sondern eher als ein breiteres intertextuelles Netz von nicht immer sofort augenfälligen expliziten und impliziten Bezügen.

     Kein unbeträchtlicher Teil dieser Bezüge lässt sich bereits in seiner Heimat Bukowina, in den Gedichten seiner Dichterkollegen und -freunde entdecken, so bei Moses Rosenkranz, David Goldfeld, Alfred Gong, Immanuel Weißglas (dessen Gedicht Er besonders frappierende bildliche Parallelen zu der Celanschen Todesfuge aufweist). Bereits bei Celans älterem Freund, Mentor und Förderer Alfred Margul-Sperber finden sich Bilder wie „dunkle Milch“, „die Milch des Abends“, in einem frühen Gedicht der Rose Ausländers kommt dann die „schwarze Milch“ vor. Doch waren diese Bilder bei ihnen, wie der Herausgeber in seiner umfang- und kenntnisreichen Einführung betont, „zwar möglicherweise melancholisch, aber ‚harmlos‘. Nach 1945 sind die Metaphern mit Grauen aufgeladen“ (S. 33). Dieses intertextuelle Metapherngeflecht erklärt der Herausgeber vor allem durch die gemeinsame Herkunft der Bukowiner Dichter. „Topographisch und biographisch sind die Autoren einander sehr nah, und so wirken die Texte wie Paraphrasen und Fortsetzungen voneinander, wie ein Shoah-Hypertext, dessen Klimax die Todesfuge ist.“ (S. 34).

     Es gibt aber nähere oder entferntere, manchmal kaum verfolgbare Entsprechungen, stilistische Verwandtschaften, bildliche Nach- und Widerklänge, strukturelle Parallelen, Klangähnlichkeiten usw. des Celanschen Gedichts mit anderen Texten der Weltliteratur. So führt diese Anthologie Texte aus Tanach (heilige Bücher des Judentums) und Siddur (jüdische Gebete) an, deren starke Bilder als Vorstufen für einige poetische Formulierungen der Todesfuge sein könnten (Das Hohe Lied, Klagelieder Jeremiah, Psalmen, Kaddisch), sowie Beispiele des „außerbukowinischen Metapherngeflechts“ (Gedichte von Ivan Goll, Nelly Sachs, Franz Werfel, Georg Trakl, Ossip Mandelstam, Else Lasker-Schüler, Heinrich Heine, deren poetische Leitmotive und Bilder in einem gewissen thematischen Einklang mit dem bildlichen System des Celanschen Gedichts stehen). In einem eigenen Kapitel („Nachklang und Echo der Todesfuge“) sind dann Celans spätere Gedichte angeführt, die manche Motive der Todesfuge noch einmal aufgreifen (z. B. Es war Erde in ihnen, Kenotaph, Wolfsbohne, Engführung u.a.). Schließlich versammelt der Abschnitt „Das (nicht nur) bukowinische Sprachengeflecht“ Übersetzungen der Todesfuge in neun Sprachen, die in der Heimatstadt des Dichters gesprochen wurden und ihm zugänglich waren oder aus denen er selbst später übersetzte (Rumänisch, Ukrainisch, Jiddisch, Französisch, Russisch, Englisch, Iwrit, Italienisch, Portugiesisch). Hier fehlt allerdings noch Polnisch, das ein wichtiger Bestandteil des Czernowitzer Sprachamalgams war („Der Spiegelkarpfen/ in Pfeffer versulzt/ schwieg in fünf Sprachen“4 – sagt R. Ausländer in ihrem Gedicht Czernowitz I, wobei sie auch Polnisch dazu zählt).

     Eine richtige Überraschung bieten die akustischen Inkarnationen der in der Anthologie angeführten Gedichte – jedes von ihnen ist mit einem QR oder einem Link zu den Tonaufnahmen versehen, und so lassen sich Gedichte nicht nur lesen, sondern auch hören. Besonders sinnvoll ist das für die letzte Abteilung des Buches mit fremdsprachigen Übersetzungen. Auf diese Weise kann die Todesfuge in mehreren Sprachen wahrgenommen werden, in der Regel von Muttersprachlern mit großer Kunstfertigkeit vorgetragen. Außerdem sind die übersetzten Texte aus schwer zugänglichen Sprachen, die eine andere Schrift als die lateinische benützen (z. B. Ukrainisch, Russisch, Jiddisch, Iwrit), mit lateinischen Buchstaben transkribiert. Diese digitalen Innovationen erhöhen den praktischen Wert der Ausgabe, ihre pädagogische Verwendungssphäre, lassen zugleich aber auch erraten, welch enorme organisatorische und technische Schwierigkeiten dabei bewältigt werden mussten, damit jedes Gedicht eine entsprechende rezitatorische Verkörperung findet. Denn wenn sich dieser Aufgabe auch berufliche Schauspieler widmen (was in der Anthologie öfters geschieht), bedeutet es nicht immer einen Erfolg. „Die Kunst beim Textsprechen – bemerkt der Herausgeber in seinem Vorwort – besteht darin, zu einem fertigen Wortlaut eine Prosodie zu finden, die dazu passt. Das ist anspruchsvoll, weil ja normalerweise Wortlaut (Wörter und Satzbau) in Akteinheit mit der Prosodie entstehen, also den Akzenten, der Melodiebewegung, den Pausen, dem Tempo, der Lautstärke usw. Wir müssen den fertigen Wortlaut des Textes so reproduzieren, dass eine dazu passende Prosodie entsteht.“ (S. 17). In den meisten Fällen gelingt es den Vortragenden, diesen hohen Anforderungen zu entsprechen.

     Für die Freunde der Celanschen Dichtung ist das Buch Norbert Gutenbergs ein prächtiges Geschenk, denn es stellt das bekannteste Gedicht dieses Autors in den ungemein breiten literarischen und kulturellen Kontext und trägt einem besseren Verständnis seiner genetischen Wurzeln und intertextuellen Parallelen bei. Falls es zu einer zweiten Auflage der Anthologie kommen sollte, so wäre es notwendig, einige kleinere faktische Ungenauigkeiten zu verbessern. So kannte Marie Luise Kaschnitz die Todesfuge bereits seit 1948 – Celan hat ihr sein Gedicht während des ersten Internationalen Schriftstellertreffens der Zisterzienserabtei bei Paris, das zwischen dem 4. und 8. Oktober 1948 stattfand, auf einer Bank im herbstlichen Park vorgelesen, wovon die Dichterin in ihrem Buch „Orte“ erzählt5 (S. 32-33). Rose Ausländer widmete Celan nicht zwei, sondern vier Gedichte (Für P. A., In memoriam Paul Celan, Paul Celan, Paul Celans Grab) und bei Manfred Winkler finden sich nicht nur drei, sondern fast ein Dutzend Celan zugedachter Texte (außer den genannten Mit Paul Celan, Ihm, Mit den Gedanken an Paul Celan noch solche Titel wie Mit drei Versen von Celan, Celans Variante, Mit dem Gedicht „Assisi“ von Paul Celan, Mit der Bibel dem Untergang Goethe und Celan, Mit Zürich, zum Storchen, Ohne und mit Celan u.a.) sowie beinahe unzählige Anspielungen auf seinen berühmten Landsmann und seine Werke, wie die neuere Ausgabe der gesammelten Gedichte Winklers bezeugt6 (S. 192). Im Jahre 1921 wanderte Rose Scherzer mit ihrem Studienfreund Ignaz Ausländer in die USA aus, geheiratet hat sie ihn erst am 19. Oktober 1923 in Manhattan7 (S. 193). In der Kurzbiographie von Alfred Margul-Sperber werden nur die Typoskripte der Anthologie Die Buche angegeben, während sie inzwischen auch in Buchform erschienen sind8 (S. 207). Unter den Gedichtbänden von Moses Rosenkranz gibt es keine Gedichtbände An jeden Menschen, der mir Bruder ist, Stunden der Demut, Buch der Trauer und Menschen – das sind Buchtitel seiner älteren Schwester Dusza Czara-Rosenkranz (S. 211). Außerdem sind die Namen der Übersetzer der Todesfuge sowie jene von Rezitatoren der Gedichte nur schwer identifizierbar – es wäre besser sie in einem eigenen Verzeichnis extra aufzulisten.

Petro Rychlo

Anmerkungen

1 Thomas Sparr. Todesfuge. Biographie eines Gedichts. München: Deutsche Verlags-Anstalt 2020.

2 Norbert Gutenberg (Hg.) Celan und die Anderen. Eine Anthologie zur Todesfuge. Berlin: Edition Noack & Block 2023.

3 Wolfgang Emmerich. Paul Celan. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag 1999, S. 51.

4 Rose Ausländer. Wir pflanzen Zedern. Gedichte. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag 1993, S. 10. [Werke in 16 Bänden. Hrsg. von Helmut Braun]

5 Marie Luise Kaschnitz. Orte. Aufzeichnungen. Frankfurt a. M.; Leipzig: Insel Taschenbuch Verlag 1991, S. 22-23.

6 Manfred. Winkler. Haschen nach Wind. Die Gedichte. Hrsg. von Monica Tempian und Hans-Jürgen Schrader. Wien; Wuppertal 2017, S. 61, 72, 75, 77, 83, 85, 87, 91-92, 94, 206, 208, 304, 335, 376, 403, 479, 486-488, 519, 689 u. a.

7 Siehe Helmut Braun. „Ich bin fünftausend Jahre jung2. Rose Ausländer. Zu ihrer Biographie. Stuttgart: Radius Verlag 1999, S. 33.

8 Die Buche. Eine Anthologie deutschsprachiger Judendichtung aus der Bukowina. Zusammengestellt von Alfred Margul-Sperber. Aus dem Nachlass herausgegeben von George Gu_u, Peter Motzan und Stefan Sienerth. München: IKGS Verlag 2009. 469 S.

Anm. d. Red:

Diese Rezension hätte eigentlich in „Zwischenwelt“ erscheinen sollen. Das ist aber nicht mehr im Sinne von Peter Rychlo gewesen. Daher erscheint sie nun hier, in „Zwischenwelt im Exil“.

Siehe dazu auch Peter Rychlos Solidaritätserklärung vom 22. November 2024: https://konstantinkaiser.at/2024/11/22/peter-rychlo-ii/  

Published inZwischenwelt im Exil