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Wir trauern um Lore Segal

Lore 2018 in Wien. Foto Hannah Menne

1928 Wien – 2024 New York City

Die Theodor Kramer-Preisträgerin, bedeutende Autorin und liebe Freundin ist am 7. Oktober in New York verstorben. Zuletzt nahm sie im August 2024 über ihre Tochter Beatrice zu Hannah Menne und Konstantin Kaiser Kontakt auf, um Gewissheit zu erlangen, dass die Zitierung von Theodor Kramers Gedicht „Wer läutet draußen an der Tür“, das sie selbst neu ins Englische übersetzt hatte, in einer geplanten Publikation urheberrechtlich zulässig sei.

Im Herbst 2023 erklärte Lore Segal noch ganz selbstverständlich ihre Zustimmung zu dem von Martin Pollack verfassten Appell der Theodor Kramer-PreisträgerInnen, der zu unbedingter Solidarität mit der Ukraine im Widerstand aufforderte.

Erschienen ist das Zitat aus Theodor Kramers Gedicht dann als ein letztes Wort Lore Segals am 29. September 2024 im „New Yorker“, als Abschluss des letzten Texts ihrer „Ladies Lunch“, die von einer Gruppe von Freundinnen handeln, die zusammen älter werden. Theodor Kramer hat das Gedicht im Juni 1938 verfasst, zu jener Zeit, als die Gräuel der Naziherrschaft bereits bedrohlich vor den Türen der damals zehnjährigen Lore und ihrer Familie standen. Im Dezember desselben Jahres wurde Lore mit einem „Kindertransport“ nach England geschickt.

Dort begann sie aufzuschreiben, was sie erlebte, verfasste unzählige Briefe und Aufsätze, zuerst noch auf Deutsch, doch bereits nach sechs Monaten als Klassenbeste der Jüdischen Schule in Liverpool auf Englisch. Ihrem Schreiben verdanken nicht nur einige Familienmitglieder ihr Entkommen vor den Nazis, es dokumentiert auch ihre ergreifenden Erkundungen der jüdischen Flüchtlings- und Einwanderererfahrung.

Es ist erstaunlich, wie sie mit Erinnerungen umgeht, als ob sie manchmal dem Weg der Worte vom Kopf zum Papier nicht trauen würde. In der Erzählung „The Raggaschlucht“ deutet sie an: „Der Grund, warum ich kein Tagebuch führte, war die Annahme, dass das Gedächtnis auswählen würde, was nützlich sein könnte; das, was ich vergessen würde, konnte nicht der Erinnerung wert gewesen sein.“

In der Preisbegründung für den Theodor Kramer Preis 2018 wurde ausgeführt:

Nicht selbstverständlich war es, dass Sie schon früh das Bedürfnis und die Notwendigkeit verspürten, englischsprachigen Menschen das Ausmaß von Antisemitismus, Ausgrenzung und Verfolgung unter dem nationalsozialistischen Regime, sowie Ihre Erfahrungen von Flucht und Exil verständlich zu machen. So schildern Sie die Geschichte eines den Umständen trotzenden Mädchens, das seine Eindrücke und Gedanken offen und schonungslos zur Sprache bringt und sein Leben selbst in die Hand zu nehmen strebt. Ihr lakonischer Humor, Ihr oft selbstironisierender Erzählstil vermag den widersprüchlichsten Regungen gerecht zu werden, die der Erfahrung von Fremdheit und dem Ringen um Identität entspringen. Sie betrachten aber selbst die Verhältnisse in dem Land, in dem Sie letztlich Fuß gefasst haben, mit der nicht nachlassenden Verwunderung, die nur dem gegeben ist, der die Dinge auch von der Seite her anschauen kann. Im Zwischenbereich von Komik und Tragik entfaltet sich die beeindruckende Wirkung Ihrer Schriften.

„Die Katastrophe ist ein fremdes Land. Wir wissen nicht, wie wir mit den Menschen sprechen sollen, die dort leben.“ (Lore Segal)

Die Literaturwissenschafterin und Übersetzerin Karin Hanta sagte in ihrer Laudatio zur Verleihung des Theodor Kramer Preises 2018 an Lore Segal in Niederhollabrunn, dem Geburtsort Theodor Kramers, in Anwesenheit von Lore Segal und ihrer Familie:

Diese Sicht auf den Anderen eignet einer „Erinnerungskultur, die nicht nur den Blick auf die Vergangenheit richtet, sondern auch in die Zukunft schaut. Holocaust und Exil sind also nicht etwas, das wie aus der Geschichte herausgebrochen erscheint, sondern sie stehen in aktivem Bezug zur Gegenwart und Zukunft. Ihre Werke verdeutlichen, dass man nicht den aus ihrer Heimat aufgrund von Krieg und Verfolgung Geflüchteten Schuld für unsere unruhige Zeit geben darf, sondern aktiv zu ihrer Integration beitragen muss. Ihre Werke mahnen uns, das zu verhindern, was Theodor Kramer in seinem Gedicht „Wer läutet draußen an der Tür?“ beschreibt.“

Wer läutet draußen an der Tür,
kaum dass es sich erhellt?
Ich geh schon, Schatz. Der Bub hat nur
Die Semmeln hingestellt.

Wer läutet draußen an der Tür?
Bleib nur; ich geh, mein Kind.
Es war ein Mann, der fragte an
Beim Nachbar, wer wir sind.

(Theodor Kramer Juni 1938)

Who is outside ringing at the door?
And we not even out of bed?
I’ll go, love, and take a look.
Only the boy who came and left the bread.

“But the second verse:

Who is outside ringing at the door?
You stay, dear.
It was a man talking with the
neighbors asking who we are?

(Übersetzung Lore Segal August 2024)

Das Bezirksmuseum Josefstadt zeigt bis zum 26. Jänner 2025 die Ausstellung „Ich wollte Wien liebhaben, habe mich aber nicht getraut“, kuratiert von Karin Hanta, der Übersetzerin vieler Werke Segals. Das Leben und Wirken der Schriftstellerin Lore Segal, geboren in der Josefstädterstraße als Lore Groszmann, wird in vielen beeindruckenden Bildern und Dokumenten nachgezeichnet.

(Schmidgasse 18, 1080 Wien, Öffungszeiten Sonntag 10-12 Uhr und Mittwoch 18-20 Uhr und nach Vereinbarung: Tel. 01 4036415.

Hannah Menne und Konstantin Kaiser, Oktober 2024,
Redaktion Zwischenwelt im Exil

Published inZwischenwelt im Exil