von Konstantin Kaiser
„Karl Renner war kein Antisemit“, erklärte der umtriebige Renner-Biograph Siegfried Nasko im Sozialdemokratischen Kämpfer (Wien) Nr. 5-6/2018, S. 7. Nasko nennt Renner „Staatsmann, Parlamentsexperte, Wissenschaftler, Schriftsteller und Visionär“. Unter Dollfuß war er 100 Tage im Gefängnis. „Renners Prinzip war es, mit jeder Staatsautorität, auch mit Tyrannen, zwecks Milderung zu verhandeln.“ Er hatte einen jüdischen Schwiegersohn und daher „halbjüdische“ Enkelkinder. „… es gibt keine bekannten und überlieferten antisemitischen Ausfälligkeiten.“ Nasko sieht ihn als „den wohl bedeutendsten Staatsmann Europas in der ersten Hälfte des 20. Jhd.“
Nun gibt es eine bei Barbara Serloth zitierte Äußerung, in der Renner die Juden Österreichs als Überbleibsel des Vielvölkerstaates darstellt.
Die Stelle findet sich in Serloths Buch „Nach der Shoah. Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945“, S. 69f. Da heißt es: „Im Februar 1946 verlieh er [Karl Renner] nach Angaben von Richard Crossman in einem Gespräch mit dem Palästina-Komitee seiner Vermutung Ausdruck, wonach die jüdischen Gemeinden sich nicht mehr erholen würden, und verwies nicht auf die Shoah, sondern auf den nicht mehr bestehenden Freihandel des Habsburgerreichs.“ […] „Sicherlich würden wir es nicht zulassen, dass eine neue jüdische Gemeinde aus Osteuropa hierherkäme […] während unsere eigenen Leute Arbeit brauchen.“
Es ist das nicht direkt und offen antisemitisch, sonden bloß verleugnend und damit beschönigend. Radikalisiert läuft es auch bei Renner auf ein eliminatorisches Konzept hinaus, nur will er die Elimination nicht der Gewalttat, sondern dem geschichtlichen Prozeß und dem wirtschaftlichen Fortschrittt überantwortet wissen. Renner hatte jedenfalls ein sozialtechnologisches Verständnis der Frage, urteilte aus der Position eines rationalen Teilsystems, als welches er die Verwaltung, die Bürokratie sah. Die zitierte Äußerung wird Renner von Richard Crossman in seinen Erinnerungen in den Mund gelegt. D.h., es ist plausibel, daß Renner dergleichen geäußert hat, aber nicht hieb- und stichfest nachgewiesen. Rapportiert wurde Renners Äußerung von Robert Knight schon 1988 in seinem bekannten Buch „Ich bin dafür, die Sache in die Länge zu ziehen“.
War Karl Renner also Antisemit?
Die Frage ist falsch gestellt, man könnte sie, wie Siegfried Nasko es tut, mit Hinweis auf den jüdischen Mann von Renners Tochter auch glatt verneinen. („… jüdisch versippt“…) Doch seine Auffassung, dass jüdische Gemeinden obsolet seien, da ohne wirtschaftliche Notwendigkeit und Position, geht von der Auffassung aus, dass Menschen nur so weit existieren können und dürfen, als ihre Existenz ökonomisch möglich oder sinnvoll ist. Das Verhältnis von Mensch und Wirtschaft ist hier völlig auf den Kopf gestellt. Zuerst ist für den historischen Materialisten Renner die Wirtschaft da und generiert die Menschen, während umgekehrt die Frage, warum die Juden nach 2000 Jahren immer noch da sind, zunächst einfach mit dem Hinweis beantwortet werden muss, sie hätten doch Kinder gezeugt und großgezogen wie alle anderen Menschen auch. Das Antisemitische seiner Äußerungen mag Renner selbst nicht aufgefallen sein, ging er doch davon aus, dass die Assimilation die Zukunft der Gesellschaft sei. Dass aber das Lebensrecht von Menschen von ihrer wirtschaftlichen Nutzbarkeit abhängig gemacht wird, ist nicht historischer Materialismus, sondern Malthusianismus und mit ihm eine irrationale Furcht vor dem Schrumpfen der gemeinsamen Lebensgrundlage der Menschen, eine Furcht, die die Bewegung zur Assimilation in eine zur Aussiebung hinführende verwandelt. Hier entsteht dann der Antisemitismus, nicht aus einer speziell gegen Juden gerichteten Abwehrhaltung, sondern aus einer sozialdarwinistischen Inszenierung des Kampfes ums Dasein. Man könnte sagen, die eigentliche Quelle für Renners Denken ist Malthus und sein Gesetz der fallenden Grundrente, die Vorstellung, dass weniger Menschen mehr Reichtum bedeute, und dies ganz gegen alle bis dahin geltenden Lehren der Nationalökonomie, die mit dem Wachstum der Bevökerung zunehmenden Reichtum der Gesellschaft prognostizierten.
Wenn Barbara Serloth in Renners Ausführungen zur Stellung der Juden in den Ländern der Monarchie zu Recht gleich ein antijüdisches Stereotyp erkennt, so hätte sie doch einräumen müssen, dass Renner als Kenner der sozialen Verhältnisse der Monarchie das Stereotyp nicht benötigte, um die Stellung der Juden zu verdeutlichen, zweifellos konnte er diese besonderen Gegebenheiten aus eigener Kenntnis und Anschauung darstellen.
Serloth, allzu rasch mit ihrer Antisemiismus-Verdächtigung in die Denunziation abdriftend, begibt sich der Möglichkeit den spezifischen Zug an der Sache herauszuarbeiten, nämlich den, dass Renner die Existenz der Juden der Modernisierung preisgibt, welche somit bei Serloth außerhalb der Kritik verbleibt.
Karl Renner war ein Modernisierungsantisemit. Nicht der einzige.