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Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand

von Timothy Snyder

Dies sind zwanzig Lehren des 20. Jahrhunderts, die ich vor sieben Jahren zuerst im Internet und dann, mit historischen Beispielen unterlegt, in einer Brandschrift mit dem Titel „Über Tyrannei. Zwanzig Lehren für den Widerstand“ veröffentlichte. Geschrieben am Vorabend der ersten Präsidentschaft Donald Trumps, sind sie seither in den USA und in vielen anderen Ländern angewendet worden.
Für diejenigen, die auch nach 2024 Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Vereinigten Staaten wollen, möchte ich nur eines hinzufügen: Jetzt ist die Zeit sich zu organisieren, sich auf lokale und nationale Wahlen vorzubereiten, und nicht nur darüber zu reden, was wir verlieren, sondern auch darüber, was wir gewinnen können.
„Über Tyrannei“ habe ich in einer Verteidigungshaltung geschrieben, doch Freiheit ist nicht nur etwas, das es zu verteidigen gilt, sie muss auch definiert und gefeiert werden. Ich persönlich bin der Ansicht: Wenn wir es durch dieses Jahr schaffen, kann es besser werden. Viel besser.
Jetzt, drei Jahre nach Trumps Versuch, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in den Vereinigten Staaten zu zerstören, rufe ich diese Lehren in Erinnerung, in der Hoffnung, es in einem Jahr nicht wieder tun zu müssen.

1. Gehorche nicht vorauseilend. Im Autoritarismus wird die meiste Macht freiwillig gegeben. In solchen Zeiten denken Einzelne vorauseilend, was eine repressivere Regierung verlangen wird, und bieten es ohne Not an. BürgerInnen, die sich so anpassen, werden den Machthabern selber zum Lehrbeispiel dafür, was möglich wird.

2. Verteidige Institutionen. Es sind Institutionen, die uns helfen, unseren Anstand zu bewahren. Sie brauchen aber auch unsere Hilfe. Sag nicht “unsere Institutionen“, wenn du sie nicht zu den deinen machst, wenn du nicht ihretwegen handelst. Institutionen schützen sich nicht selbst. Wenn sie nicht von Anfang an verteidigt werden, fallen sie, eine nach der anderen. Wähle eine Institution, die dir am Herzen liegt – ein Gericht, eine Zeitung, ein Gesetz, eine Gewerkschaft – und ergreife Partei für sie.

3. Hüte dich vor dem Einparteienstaat. Die Parteien, die Staaten umgebaut und Rivalen unterdrückt haben, waren am Anfang nicht allmächtig. Sie nutzten einen historischen Moment, um dem politischen Leben ihrer GegnerInnen ein Ende zu bereiten. Unterstütze daher das Mehrparteiensystem und verteidige die Regeln demokratischer Wahlen. Gib deine Stimme ab, in lokalen wie in nationalen Wahlen, solange du es kannst. Überlege, für ein Amt zu kandidieren.

4. Übernimm Verantwortung für das Angesicht der Welt. Die Symbole von heute ermöglichen die Realität von morgen. Bemerke die Swastiken und die anderen Zeichen des Hasses. Schau nicht weg und gewöhne dich nicht daran. Entferne sie eigenhändig und sei damit anderen ein Beispiel.

5. Erinnere Berufsethik. Werden politische Führer zum schlechten Beispiel, wird das Berufsethos bedeutsamer. Rechtsstaatlichkeit zu untergraben oder Schauprozesse abzuhalten ist sehr schwer, wenn Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Richterinnen und Richter sich weigern, mitzumachen. Autokraten sind auf folgsame öffentliche Bedienstete angewiesen, und Konzentrationslagerleiter suchen an billiger Arbeit interessierte Geschäftsleute.

6. Sei wachsam vor paramilitärischen Gruppierungen. Wenn die Männer mit Waffen, die immer “gegen das System” waren, Uniformen zu tragen beginnen und mit
Fackeln und Bildern eines Führers marschieren, ist das Ende nah. Wenn führertreue Paramilitärs sich mit den staatlichen Institutionen Polizei und Militär vermischen, ist das Ende da.

7. Besinne dich, falls du eine Waffe tragen musst. Wenn du im öffentlichen Dienst eine Waffe trägst, möge Gott dich segnen und schützen. Vergiss nie, dass in der Vergangenheit Böses die Polizei und die Armee involvierte. Eines Tages fanden sie sich in einer irregulären Situation wieder. Sei bereit, Nein zu sagen.

8. Falle auf. Jemand muss es. Zu folgen ist einfach. Etwas zu tun oder zu sagen, das heraussticht, kann sich eigenartig anfühlen. Doch Freiheit gibt es nur, wenn man sich diesem Unbehagen aussetzt. Denk an Rosa Parks. Sobald du mit gutem Beispiel vorangehst, ist der Bann des Status quo gebrochen und andere werden folgen.

9. Sei umsichtig mit unserer Sprache. Vermeide die Phrasen, die alle verwenden. Sprich mit eigener Stimme und auf eigene Art, selbst wenn du glaubst, dass du nur das sagen willst, was auch alle anderen sagen. Gib dir einen Ruck, dich vom Internet loszureißen. Lies Bücher.

10. Glaub an Wahrheit. Fakten aufzugeben bedeutet die Freiheit aufzugeben. Wenn nichts wahr ist, kann keiner die Machthaber kritisieren, denn die Grundlage der Kritik gibt es nicht mehr. Wenn nichts wahr ist, ist alles Spektakel. Die größte Brieftasche zahlt für die grellsten Scheinwerfer.

11. Recherchiere. Finde Dinge selbst heraus. Nimm dir die Zeit für lange Artikel. Unterstütze investigativen Journalismus, indem du Printmedien abonnierst. Realisiere, dass sich im Internet einiges findet, das da ist, um zu schaden. Lerne über Webseiten, die über Propagandakampagnen aufklären (manche sind im Ausland). Übernimm Verantwortung für Deine Kommunikation mit anderen.

12. Schau Menschen in die Augen und führe small talk. Das ist nicht nur eine Frage der Höflichkeit. Es gehört zum bürgerlichen Leben, verantwortungsvolle Mitglieder der Gesellschaft verhalten sich so. Es ist aber auch ein Weg, mit deiner Umgebung in Kontakt zu bleiben, soziale Barrieren zu überwinden und zu erkennen, wem und wem du nicht trauen solltest. Sollten wir auf eine Kultur der Denunziation zusteuern, wirst du wissen wollen, wie die psychologische Landschaft deines Alltags aussieht.

13. Betreibe “Körperpolitik” [1] Herrschaft will, dass dein Körper auf Deinem Sessel weich wird und sich deine Emotionen auf dem Bildschirm verflüchtigen. Geh hinaus. Setze deinen Körper ungewohnten Orten mit ungewohnten Menschen aus. Finde neue Freunde, geh mit ihnen.

14. Schaffe ein Privatleben. Üblere Regierende werden alles, was sie über dich wissen, dazu nutzen, um mit dir zu machen, was sie wollen. Entferne regelmäßig Schadsoftware von deinem Computer. Denk daran, dass E-mails nicht sicher sind. Überlege dir, andere Formen des Internets zu nutzen, oder verwende es einfach weniger. Tausche dich persönlich mit Menschen aus. Versuche aus demselben Grund, eventuelle rechtliche Probleme zu lösen. Tyrannen suchen den Haken, auf dem sie dich hängen können. Versuche, keinen zu haben.

15. Unterstütze einen guten Zweck. Betätige dich in Organisationen, politisch oder nicht, die deine Sicht des Lebens teilen. Such dir ein oder zwei Wohltätigkeitsorganisationen und richte einen Dauerauftrag ein. Dann hast du eine freie Wahl getroffen, die die Gesellschaft unterstützt und anderen hilft, Gutes zu tun.

16. Lerne von Peers anderer Länder. Pflege deine Freundschaften im Ausland oder schließe neue in anderen Ländern. Die gegenwärtigen Probleme in den Vereinigten Staaten sind Teil eines weitreichenderen Trends. Und kein Land wird das Problem alleine lösen können. Stelle sicher, dass du und deine Familie gültige Pässe besitzt.

17. Achte auf gefährliche Worte. Sei wachsam, wenn Worte wie “Extremismus” und “Terrorismus” fallen, achte auf fatale Begriffe wie “Notstand” und “Ausnahme”. Rege dich auf über die heimtückische Verwendung patriotischer Begriffe.

18. Bleib ruhig, wenn das Undenkbare eintrifft. Moderne Tyrannei ist Terror-Management. Wenn die Terrorattacke passiert, denk daran, dass solche Ereignisse von Autokraten ausgenutzt werden, um ihre Macht zu festigen. Das plötzliche Desaster, das das Ende der Gewaltenteilung, die Auflösung oppositioneller Parteien, die Aufhebung der Redefreiheit, des Rechts auf einen fairen Prozess usw. notwendig mache, ist der älteste Trick im hitlerschen Buch. Fall nicht darauf rein!

19. Sei eine Patriotin, sei ein Patriot. Sei ein Vorbild dafür, was Amerika für die kommenden Generationen bedeuten soll. Sie werden es brauchen.

20. Sei so mutig, wie du kannst. Wenn keiner von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei sterben.

Über Timothy Snyder

Diese 20 Lehren sind die Einleitung der 20 Kapiteln von Timothy Snyders 2017 erschienenem Buch: „Über Tyrannei. Zwanzig Lehren für den Widerstand”.

Snyder hat sie nach dem 2021 unter Trump erfolgten Putschversuch und nach Russlands Überfall auf die gesamte Ukraine am 24. Februar 2022 überarbeitet.

Am 17. September 2024 erscheint Timothy Snyders Buch: “Über die Freiheit”.

Timothy Snyder gehört zu den weltweit führenden Osteuropa- und Holocaustforschern. Er spricht fünf europäische Sprachen und kann zehn europäische Sprachen lesen.

Snyder ist Professor an der Yale Universität in den USA und Permanent Fellow am Wiener Institut für die Wissenschaften vom Menschen. 2013 erhielt er den Hannah-Arendt-Preis, die Laudatio hielt Gerd Koenen. 2020 wurde Snyder mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet. Snyder ist mit der 1972 geborenen Historikerin Marci Shore verheiratet, die ebenfalls an der Yale Universität lehrt. Er ist Mitglied des Zentrums Liberale Moderne, das 2017 von Marieluise Beck und Ralf Fücks gegründet wurde.

In seiner Dissertation “Nationalism, Marxism, and Modern Central Europe: A Biography of Kazimierz Kelles-Krauz, 1872-1905” Harvard Ukrainian Research Institute/Harvard University Press, 1997, befasste sich Snyder mit dem im russischen Teilungsgebiet aufgewachsenen polnisch-litauischen Intellektuellen Kelles-Krauz, der in Wien eine innovative Theorie des Nationalismus entwickelte: die der politischen Nation. In “Black Earth: The Holocaust as History and Warning” streicht Snyder die Bedeutung der Staatlichkeit hervor. Beide, Stalin und Hitler, zerstörten Nationen. Die Überlebensrate von Jüdinnen und Juden sank drastisch, wenn der Staat zusammengebrochen war, wie etwa in Polen; in Ländern mit andauernder Staatlichkeit, wie Dänemark, konnten die eigenen jüdischen StaatsbürgerInnen besser geschützt werden.

Snyder vertritt den Standpunkt, dass man sich als Wissenschaftler nicht hinter der Wissenschaft verstecken darf. Bereits 2014, nach Beginn des russischen “kleinen Krieges” gegen die Ukraine, organisierte Synder in Kyjiw eine Konferenz mit SchriftstellerInnen und Intellektuellen, nach Beginn des “großen Krieges” gegen die Ukraine am 24.2.2022 initiierte Snyder “Safe Skies” zur Verteidigung des ukrainischen Luftraumes.

Siehe auch: https://timothysnyder.org/

(Sonja Pleßl)


[1] Der Begriff “Körperpolitik” stammt vom ukrainischen Kunstkurator Vasyl Cherepanyn, siehe: Timothy Snyder: Der Weg in die Unfreiheit. Russland, Europa, Amerika. C.H.Beck 2018, S. 137.

Published inZwischenwelt im Exil